Musik

Ludovico Einaudi über Hits: „Manche Kuchen sind wohl perfekter als andere“

Ludovico Einaudi spielt am 31. Mai live in der  Waldbühne. Wir haben den Star-Komponisten  in Berlin getroffen. Ein Gespräch über das Mysterium des Erfolgs.

Ludovico Einaudi in den Abbey Road Studios, fotografiert von Paul McCartneys Tochter Mary.
Ludovico Einaudi in den Abbey Road Studios, fotografiert von Paul McCartneys Tochter Mary.Mary McCartney, at Abbey Road st

Grand-Hyatt-Hotel Berlin: Wir treffen den Weltstar-Komponisten Ludovico Einaudi, er trägt einen seiner coolen Hüte und bestellt Espresso. Ob der Berliner Kaffee denn gut genug für ihn, den Italiener, sei, wollen wir wissen: Ja, keine Sorge, sagt Einaudi. In der Küche arbeite auch eine Italienerin. Sein sanftes Lächeln sieht aus wie: Ganz ernst meint er es nicht. Aber ein bisschen vielleicht doch?

Maestro Einaudi, Ihr neues Album handelt vom Sommer. Nun treffen wir uns hier im matschigen Berliner Winter.

Ich kann dem Winter auch viel abgewinnen. Aber in meiner ersten Lebenshälfte war der Sommer mit Abstand meine Lieblingsjahreszeit. Wir hatten extrem lange Sommerferien. Rund drei Monate. Das ist natürlich zu viel, weil man alles vergisst, was man im Schuljahr davor gelernt hat. Aber es war auch großartig! Es fühlte sich grenzenlos an. Ich konnte mich ganz in diesem Gefühl verlieren – und in einer Welt, in der ich alles noch entdeckte: Beziehungen zur Natur, zu Freunden. Alles war sehr physisch und ich lernte durchs Experimentieren.

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Mary McCartney vor den Abbey Road Studios
Zur Person
Ludovico Einaudi, 1955 geboren in Turin, ist ein italienischer Pianist, der den Genres Minimal und Neoklassik zugerechnet wird. Mit mehr als zehn Millionen Hörern monatlich allein auf Spotify ist er einer der meistgestreamten Komponisten unserer Zeit. Studiert hat Einaudi auf dem Giuseppe-Verdi-Konservatorium in Mailand, wo er Assistent des Avantgarde-Komponisten Luciano Berio wurde.

Einaudis Großvater Luigi war von 1948 bis 1955 Staatspräsident von Italien, sein anderer Großvater war Komponist und Dirigent, er floh vor den Faschisten nach Australien. Einaudis Vater Giulio gründete 1933 ein Verlagshaus, das zu den wichtigen Institutionen im literarischen Italien gehört. Dem ganz großen Publikum wurde Einaudi 1996 mit seinem ersten Soloalbum „Le Onde“ bekannt. Einaudi lebt mit seiner Familie im Piemont auf dem Weingut seiner Großeltern.

Das klingt nach Freiheit.

Absolut, ich war vollkommen frei zu dieser Zeit. Wir waren am Meer mit der Familie, in einem kleinen Fischerdorf zwischen Ligurien und der Toskana. Wenn wir dort angekommen sind, habe ich meine Schuhe und alle Zwänge der Winterzeit abgestreift. Morgens bin ich früh losgezogen und erst spätnachts zurückgekommen. Niemand hat mir erzählt, was ich zu tun oder zu lassen habe. Ich war ein wilder Junge.

Nun sind Sie ein Komponisten-Weltstar mit straffem Zeitplan.

Die Arbeit erfordert viel Zeit und viel Energie. Aber letztlich tue ich genau das, was ich möchte. Ich nehme das nicht als Verpflichtung wahr. Es ist wunderschön, das auszudrücken, wonach einem ist. Zahle ich dafür auch mit ein bisschen Freiheit? Ja. Aber das ist es mir wert.

Was glauben Sie: Warum nehmen wir Sommermomente besonders intensiv wahr?

Ich glaube, das hat viel mit dem Licht zu tun. Mit den langen Tagen und der Lebensfreude. Wenn die Sonne früh untergeht im Winter, spüre ich, wie sehr ich mich nach späten Sommersonnenuntergängen sehne. Ach, das ist was Schönes! Das stellt viel mit den Menschen an. Alle sind besser drauf.

Ihr neues Album „The Summer Portraits“ wurde inspiriert durch einen Sommerurlaub auf einer Mittelmeer-Insel, richtig?

Ja, genau. Letzten Sommer war ich mit meiner Familie auf der Insel Elba. Ich habe ein Haus in einem ruhigeren Teil der Insel gemietet. Inmitten eines Pinienwaldes. Das Meer konnte man in der Ferne sehen. Warten Sie, ich zeige Ihnen ein Foto! (Einaudi zückt sein Handy, scrollt durch seine Fotos.) Das hier war die Aussicht: Hier ist die Insel Montecristo. Nachts hatten wir sternenklaren Himmel. Hier, sehen Sie! Die Milchstraße. Wunderschön. Aber damit nicht genug. In den Räumen hingen Gemälde. Für gewöhnlich, wenn man ein Haus mietet, hängen da ja einfach irgendwelche anonymen Bilder. Irgendetwas Austauschbares. Aber diese Gemälde strotzten nur so vor Persönlichkeit. Sogar die Holzrahmen hat man bemalt. In jedem Zimmer hing ein anderes dieser Bilder. Hier sehen Sie das Haus und die Pinien. Die Person, die sie einst gemalt hat, muss also in diesem Haus gewesen sein.

Konnten Sie herausfinden, wer dahintersteckte?

Durch den Besitzer des Hauses erfuhr ich, dass eine Dame, die in den 1950ern mit ihrer Familie hier wohnte, gemalt hat. Ich fing also zu träumen an: Wer war diese Frau? Wie war ihre Familie? All dies hat sich mit meinen eigenen Erinnerungen an die Sommer von früher verflochten. Das zusammen hat meine Imaginationskraft sehr beflügelt.

Wurden Sie für Ihr Projekt auch von anderer Sommer-Musik inspiriert, etwa aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“?

Natürlich kenn ich den Vivaldi sehr gut. Ein Lieblingsstück. Aber für mein „Summer Portraits“-Album hab ich nicht direkt an ihn gedacht, sondern viel mehr an besagtes Freiheitsgefühl. Die prägenden Erinnerungen meiner Jugend hängen fast alle mit dem Sommer zusammen. Ich habe da fast alles Wichtige gelernt.

Ich musste auch an Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ denken – denn er hat sich für seine Musik auch durch Gemälde inspirieren lassen.

Vielleicht sollte ich es klarer sagen: Meine Musikstücke beziehen sich nicht 1:1 auf die Gemälde. So etwas habe ich in der Vergangenheit durchaus mal gemacht, aber diesmal nicht. Wobei sich mein Klavier-Solo „Oil On Wood“ auf dem Album immerhin auf eine Technik des Malens bezieht. Ich hatte mit dem Stück allerdings schon vor zehn Jahren begonnen. Wenn man mit Öl malt, trocknet die Farbe ja nur sehr langsam. Man kann noch Monate später etwas verändern.

Wie in der Musik.

Wie in der Musik. Ich bin immer wieder zurückgekehrt zu dieser Komposition und habe Modifikationen durchgeführt; habe etwas weggenommen, etwas anderes hinzugefügt. Und kürzlich hab ich es beendet. Mit einer neuen Coda.

„Ich fühle nicht, dass Beethoven wichtiger sein sollte als Paul McCartney“

Wie haben Sie eigentlich Ihren eigenen Sound entwickelt? Welche Rolle spielten da Philip Glas, Erik Satie, aber vielleicht auch Popmusik wie Björk und Radiohead?

Ich glaube, dass viele Flüsse in meine Musik hineinfließen. Durch jeden bin ich schon geschwommen. Manche sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. In meiner Kindheit hab ich viel Chopin gehört, durch meine Mutter. Schumann und die Beatles. Dann Jimi Hendrix, Bach, Beethoven, Strawinsky. Glass, Debussy, Satie. Das ist Musik, die ich liebe. Wenn ich komponiere, nehme ich mir Elemente all dieser Leute vor. Nein, ich sollte es anders sagen: Diese Elemente, das bin ich. Ich weiß, dass es Musiker gibt, die sich gerne enge Grenzen setzen. Aber ich fühle nicht, dass Beethoven wichtiger sein sollte als Paul McCartney. Beide sind sie wunderschön – und schenken mir unterschiedliche Gefühle.

Sie haben in der Vergangenheit betont, dass Sie Minimal, nicht Neoklassik machen. Warum das?

Oh, ich muss besser aufpassen, was ich sage. Manchmal sagt man etwas und es wird in Stein gemeißelt. So oder so ist jede Genre-Definition etwas engstirnig. Natürlich ist meine Musik auch neoklassisch. Ein Teil jedenfalls, ein anderer nicht. Philip Glass und Steve Reich waren maßgeblich für die Erfindung der Minimal Music. Man kann den Minimalismus aber auch auf die Architektur beziehen. Auch die Struktur eines Baumes ist in meinen Augen Minimal. Im Prinzip geht es bei all dem um die Idee, essenziell zu sein. Ich mag das, mir genau zu überlegen, was ich wirklich sagen kann und will. Die Klang-Essenz ist für mich das Klavier. Das Minimum. Wie Zeichnen mit dem Stift. Auch eine Skizze kann perfekt sein. Man kann dann Farben hinzufügen. Aber man beginnt mit der Struktur. Die muss wohlbalanciert und rein sein.

Sie sind einer der meistgestreamten Komponisten der Welt. Gibt es da eine Art Wettbewerb zwischen Ihnen, John Williams und Hans Zimmer?

Ich hab das nie als Wettbewerb betrachtet. Ich habe viel Respekt vor John Williams und Hans Zimmer und ihren je eigenen Klangwelten. Ich möchte jeden Tag besser werden. Aber ich denke nie über Streamingzahlen nach. Das sind nur Zahlen, die ich aus den Medien oder von meiner Plattenfirma erhalte. Hübsch zu wissen, aber ich verfolge das nicht tagtäglich.

Wenn Sie dann aber doch erfahren, dass ein bestimmtes Stück ganz besonders oft geklickt wird – wäre das eine Motivation, noch mehr in diese Richtung zu komponieren?

Nicht wirklich. Es freut mich, dass manche meiner Stücke populär sind. Aber manchmal frage ich mich auch, warum bestimmte so versteckt sind hinter anderen, die Hits wurden. Das ist ein Mysterium für mich, dass einige besonders beliebt sind, obwohl ich bei anderen nicht weniger Freude am Komponieren hatte. Zu manchen dieser Stücke kehre ich zurück, um an sie anzuknüpfen. Manchmal viele Jahre später. Das Stück „The Tower“ von meinem Album „Nightbook“ war, als es 2009 herauskam, nicht besonders populär. Inzwischen spiele ich es in veränderter Form mit neuer Coda und die Leute lieben es. Für sie ist es wie ein neues Stück. Mein Piano-Repertoire erweitert sich fortwährend. Manche Kuchen sind wohl perfekter als andere.

Sie sind auch aktivistisch unterwegs, Sie engagieren sich mit Greenpeace gegen das Schmelzen der Pole. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Die Natur, in der ich in den 1960ern als Kind leben durfte, wurde verändert. Ich empfinde den Klimawandel wie einen Wechsel von Licht zu Düsternis. Wenn ich mir Bilder von damals anschaue, wirken sie inzwischen fast irreal. Aber es geht mir natürlich nicht einfach um meine persönlichen Empfindungen, sondern um das, was Wissenschaftler Tag für Tag sagen. Die Erde verändert sich, wir leben in einer kritischen Phase der Zerstörung des Planeten. Das ist gefährlich, denn vieles ist unumkehrbar. Ständig hören wir von Überschwemmungen und Bränden. All das stimmt mich sehr traurig. Wenn ich mich an Naturschutzprojekten beteiligen kann, dann nutze ich diese Chance sehr gerne.

Ludovico Einaudi beim Greenpeace-Konzert vor dem Wahlenbergbreen-Gletscher 2016 in Norwegen
Ludovico Einaudi beim Greenpeace-Konzert vor dem Wahlenbergbreen-Gletscher 2016 in NorwegenPedro Armestre/dpa

Einer Ihrer Großväter war nach dem Zweiten Weltkrieg Staatspräsident von Italien. Der andere floh aus politischen Gründen noch während der 1930er nach Australien. Ihr Stück „Rose Bay“bezieht sich auf einen Vorort von Sydney, in dem er lebte, richtig?

Ja, er floh vor den Faschisten. Er war Komponist und Dirigent. Über England floh er von Italien nach Australien. Er blieb dort bis zum Ende seines Lebens, 1953, noch bevor ich geboren wurde. Meine Mutter hat mir viel von ihm erzählt. Sie hat ihn ihr ganzes Leben lang vermisst. Für sie war die Musik ein Weg, mit ihm in Verbindung zu bleiben, sogar über seinen Tod hinaus. Das war sicher ihre Antriebsfeder, selbst Musik zu spielen. Als ich später mit meiner Musik die Welt bereisen durfte, kam ich schließlich selbst nach Australien. Dort hab ich den australischen Teil meiner Familie getroffen. Ich habe auch das Haus besichtigt, in dem mein Großvater in Sydney gelebt hat. 77 Dover Road, Rose Bay. Als ich letztes Jahr in Sydney in der Oper war, im Umkleidezimmer, und dabei aufs Wasser und die Schiffe blickte, da kam eine Melodie zu mir. Ich beschloss, das Album mit dieser Hommage auf meinen Großvater zu beginnen.

Sie erwähnten die Faschisten. Auch unsere Zeiten sind politisch turbulent. Rechte Parteien gewinnen verstärkt Wähler. Glauben Sie, es könnte ein Punkt kommen, an dem wir selbst emigrieren müssen?

Ich hätte eine solche Situation lange nicht für möglich gehalten. Einige Leute aus Amerika denken nun darüber nach, nach Europa zu ziehen, weil sie nichts mit der Trump-Regierung zu tun haben wollen. Unglaublich, wie der rechte Flügel Auftrieb erhält. Ich wuchs auf in einer Welt, in der alle Kriege fern schienen. Sogar, wenn meine Eltern vom vergangenen Krieg redeten. Ich hatte den Eindruck, alles würde nunmehr friedlich sein. In den letzten Jahren hat sich das verändert. Das ist eine hässliche Entwicklung, dass wir wieder über Atomraketen sprechen. Es steckt eine neue Aggression in Beziehungen zwischen bestimmten Ländern. Das ist ganz und gar nicht gut. Ich wünsche mir, dass wir in einer friedlichen Welt leben, in der sich Menschen frei ausdrücken können. Ich hoffe, dass Sie einen Teil davon in meinen Stücken hören. In der Musik steckt die Hoffnung, die ich habe.

Die Musik hilft Ihnen dabei, inneren Frieden zu finden in diesen schrillen Zeiten?

Ja, mit der Musik beschütze ich mich. Schon mein ganzes Leben lang. Das hilft im Anblick des Zerstörerischen. Die Musik ist mein Schutzschild. Der Klang, der mich umgibt. So kann ich nicht fallen.

Ludovico Einaudi: The Summer Portraits. Decca/Universal, 2025; Konzert: Waldbühne, 31. Mai, 19.30 Uhr, leider ausverkauft. Weitere Tickets für Ludovico Einaudi finden Sie im Ticketshop der Berliner Zeitung