Festival-Vorbericht

Der Sound der Veränderung: Das Jazzfest steht für brachiale Energie ohne Filter

Ein junges Publikum soll es erreichen, aber auch an Traditionen anknüpfen: Das 59. Jazzfest, geleitet von Nadin Deventer, setzt auf 39 internationale Acts.

Auch die dänische Altsaxophonistin Mette Rasmussen kommt zum Jazzfest 2022.
Auch die dänische Altsaxophonistin Mette Rasmussen kommt zum Jazzfest 2022.Francesco Saggio

Seit fünf Jahren kuratiert Nadin Deventer das Jazzfest Berlin – und keins davon war, wie sie selbst sagt, „normal“. Zunächst hatte sie 2018 und 2019 der über die Zeit behäbig gewordenen Institution in politischer, ästhetischer und musikalischer Hinsicht das dringend benötigte, frische Leben eingehaucht; dann musste sie sich den Herausforderungen stellen, welche die Pandemie Veranstalter:innen – nicht nur, aber vor allem – der Kulturbranche aufgezwungen hatte.

Auch 2022 ist für Deventer ein weiteres pandemisches Jahr, allein aufgrund unvorhersehbarer Neu-Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Zudem seien da noch die Nachwirkungen jüngst überstandener und noch zu erwartender Zwänge; in Veranstalterkreisen grassiere die Schauermär von einem Publikum, das nicht mehr zurückkehre. „Eine Zeit, wie wir sie vor der Pandemie gekannt haben, wird es nicht mehr geben“, ist sich Deventer sicher, schließlich müssten sich die Menschen durch immer neue, auch finanzielle Krisen navigieren, angesichts derer sie zuerst an Freizeit und Kultur sparten.

Trotz oder gerade deshalb steht das diesjährige Jazzfest, das seit seiner Premiere 1964 zum mittlerweile 59. Mal über die Bühne geht, unter dem Motto „Moving back forward“. Das impliziert nicht nur die von vielen herbeigesehnte Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität, sondern auch eine Zeitenwende, die einen neuen Alltag bedingt. Das passt zum Jazz, war (und ist) er doch stets derart von Umbruch und Neugestaltung geprägt, dass er getrost als „Sound der Veränderung“ bezeichnet werden kann. Und so trifft beim diesjährigen Programm einmal mehr Bruch auf Kontinuität, Jung auf Alt, Erneuerung auf Tradition.

Peter Brötzmann, hier im Neuen Berliner Kunstverein 2019.
Peter Brötzmann, hier im Neuen Berliner Kunstverein 2019.imago/Matthias Reichelt

Auch der Geschichte des Berliner Jazzfestes – die immer auch Teil der Geschichte des alten West-Berlins und der deutsch-amerikanischen Verbundenheit ist – wird dieses Jahr wieder Tribut gezollt, indem die drei Urväter der Berliner Avantgarde auf die Bühne gebeten werden: Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann und Sven-Åke Johansson. Treue Jazzfest-Gänger mögen sich noch an den Eklat erinnern, für den das Premierenkonzert des von Alexander von Schlippenbach geleiteten Globe Unity Orchestra 1966 sorgte, als es im Rahmen des Jazzfestes seinen traditionszertrümmernden Free Jazz aufführte!

Neben Alexander von Schlippenbach, der am ersten Festivalabend (3.11.) abseits des Festspielhauses im Charlottenburger Club Quasimodo als Pianist im Quartett von Tenorsaxophonist Rodrigo Amado zu erleben sein wird, ist da also auch Saxophon-Enfant-terrible Peter Brötzmann, der Freitagnacht (4.11.) im Trio mit Hamid Drake und Majid Bekkas ein Hybrid aus Free Jazz und Gnawa-Grooves hören lassen und damit nicht zuletzt zeigen wird, dass Jazz auch immer von Migration und interkulturellem Dialog lebt.

Alexander von Schlippenbach beim Konzert im Jazzclub A-Trane 2022.
Alexander von Schlippenbach beim Konzert im Jazzclub A-Trane 2022.imago/Votos-Roland Owsnitzki

Vor allem aber widmet sich die diesjährige Jazzfest-Ausgabe programmschwerpunktartig dem bisherigen Werk von Sven-Åke Johansson, der nicht nur seit fünf Jahrzehnten in der Berliner Musikszene, sondern nun auch an nahezu allen Festivaltagen in irgendeiner Form präsent ist – ob im Trio mit Bertrand Denzler am Saxofon und Joel Grip am Bass, mit der für sein neues Quintett geschriebenen Kompositionsreihe „Stumps“, als Gastsänger der französischen Umlaut Big Band oder im Film „Blue For A Moment“, der am dritten Spieltag (5.11.) in der Festspielhaus-Kassenhalle bei freiem Eintritt gezeigt wird. Und dann gibt es noch die Uraufführung der szenisch-konzertanten Performance „MM schäumend – Ouvertüre für 15 Handfeuerlöscher“. Nicht ohne Grund hielt der gebürtige Schwede schon in seinem 1970er-Manifest „Befreiung“ fest, Musik sei „Erscheinungsform von allem Hörbaren/Töne & Geräusche & Stille“.

„Menschen brauchen Role Models“

Diese Definition findet auch in der jüngeren Generation ihre Anhänger, etwa mit der 1988 geborenen dänischen Altsaxophonistin Mette Rasmussen, welche die brachiale Energie des Avantgarde-Jazz so manches Mal ungefiltert auf ihr Publikum loslässt, das spätestens hier lernt: Konzerte können körperliche Erfahrungen sein. Apropos Publikum: Kuratorin Deventer ist auch unter der Prämisse angetreten, das Jazzfest – und damit den Jazz generell – jüngeren Zuschauern zu öffnen. Das gelingt ihr vor allem durch die Besetzung prominenter Festival-Slots mit jungen Musikern, denn: „Menschen brauchen Role Models. Gerade junge Menschen wollen sich identifizieren – und jüngere Musiker:innen sprechen nun einmal jüngere Menschen an“.

Nach der grundlegenden Sanierung des Festspielhauses ist man zurück in Charlottenburg-Wilmersdorf – auch, was die angestammten Nebenspielstätten betrifft, die von der Gedächtniskirche über die Traditionsclubs A-Trane und Quasimodo bis hin zum Fasanenkiez als Austragungsstätten sonntäglicher Kiezkonzerte reichen. Ebenso verpflichtet wie dem Edelbezirk fühlt man sich der aus der Festivaltradition gewachsenen, engen Verbindung zu Chicago, diesmal repräsentiert unter anderem durch Altsaxophonistin und Sängerin Matana Roberts und Cellistin Tomeka Reid, die erst jüngst den Herb Alpert Award in Arts erhalten hat und nun im vierköpfigen The Hemphill Stringtet am Donnerstag (3.11.) um 18 Uhr das Jazzfest offiziell eröffnet.

Altsaxophonistin und Sängerin Matana Roberts.
Altsaxophonistin und Sängerin Matana Roberts.Evan Hunter McKnight

Auf das Zusammenspiel mit all den renommierten Streicher:innen freut sich Cellistin Tomeka Reid ganz besonders – vor allem, da es sich um die erste Aufführung der Musik von Julius Hemphill (eines Creative-Jazz-Saxophonisten und -Flötisten, dessen Kompositionen eigens für das Quartett für Streicher arrangiert wurden) in Europa handelt. „Es wäre großartig, wenn mehr Gruppen diese tolle Musik in ihr Repertoire aufnähmen“, sagt Tomeka Reid.

Ein weiterer Schwerpunkt ist aus dem Krieg gegen die Ukraine entstanden. Vor allem die folkloristische Liedtradition der Landes soll gewürdigt werden, etwa mit der deutschen Erstaufführung „Shadows of Forgotten Ancestors“, die traditionelle Volksmusik und Kompositionen des Ukrainers Myroslav Skoryk miteinander verbindet, aufgeführt von Geigerin Anna Antypova und Sängerin Maryana Golovchenko. Ein Schlaglicht auf die Tradition des Musical Storytelling werfen auch „die Ukraine umarmende Anrainer“ aus der Schwarzmeergegend, etwa in Form der „Black Sea Songs“ mit Sanem Kalfa an den Vocals oder den „Transylvanian Folk Songs“ vom Trio des rumänischen Pianisten Lucian Ban.

Gespannt sein darf man beim Jazzfest diesmal wohl auch auf das frisch renovierte Haus der Berliner Festspiele, das unter dem Motto „Playing the Haus“ kollektiv bespielt wird – auch dort, wo Zuschauer:innen üblicherweise keinen Zugang haben. Natürlich darf dabei die hauptstädtische Jazz-Avantgarde nicht fehlen, etwa in Person von Kontrabassist Nick Dunston, der am Donnerstag (3.11.) im Rahmen der Uraufführung im Quartett von Pianist Craig Taborn die Große Bühne bespielt, oder seines Kollegen Petter Eldh, der bei Gard Nilssens Supersonic Orchestra einen von drei (!) Kontrabässen rührt.

Sven-Åke Johansson am Schlagwerk.
Sven-Åke Johansson am Schlagwerk.Def-image

Insgesamt spielen auf dem 59. Jazzfest Berlin in 39 – davon 19 von Frauen geleiteten – Acts über 150 Musiker:innen aus mehr als 25 Ländern. Kuratorin Deventer glaubt man sofort, dass es nicht nur eine Floskel ist, wenn sie beteuert, keine:n persönliche:n Favorit:in zu haben, sondern einlädt, sich auf die Gesamtheit eines Abends einzulassen: auf eine Aneinanderreihung magischer Momente, die zusammen diesen typischen Jazzfest-Flow ergeben.

Das Programm des Jazzfest Berlin 2022 finden Sie hier