„Studio by the Wall“: So nannten David Bowie, Iggy Pop und Depeche Mode vor dem Mauerfall die Hansa Studios aufgrund ihrer besonderen Lage im grenznahen Brachland am Potsdamer Platz. Heute sind die Freiflächen rund um das imposante Gebäude verschwunden. Stattdessen reihen sich moderne Gebäudekomplexe an das Tonstudio. Drinnen aber hat sich wenig verändert; beim Betreten des legendären Studios fühlt man sich augenblicklich in die Vergangenheit teleportiert, glaubt Musikgeschichte atmen zu können und wäre wohl kaum überrascht, David Bowie mit einer Zigarette im Treppenhaus anzutreffen. „Es hat eine wahnsinnig schöne Atmosphäre hier“, sagt Betterov, der sein gerade erschienenes Debütalbum „Olympia“ in den geschichtsträchtigen Räumen aufgenommen hat.
Nicht nur die Hansa Studios, sondern auch der sich an vielen Stilmitteln des Post-Punks bedienende Sound von Betterov erinnert an vergangene Tage und lässt nostalgische Gefühle aufkommen. Mit großer Leidenschaft und kraftvoll rauer Stimme singt Betterov von dem Gefühl, irgendwie nicht ganz dazuzugehören, von nächtlichen Gedankenspiralen und alles zersetzendem Trennungsschmerz. Letztes gelingt ihm besonders auf dem gemächlich beginnenden und sich schließlich in eine das Stimmorgan herausfordernde Ekstase steigernden Song „Urlaub im Abgrund“: „Du hast mich verzaubert, ein billiger Trick / Ein Urlaub im Abgrund, mehr war das alles nicht“, resümiert Betterov gegen Ende des Tracks mit brüchiger Stimme.

Auf dem Album wird es nicht nur dann melancholisch, wenn es um gescheiterte oder gar nicht erst aufgeblühte Liebesbeziehungen geht: Ganz allgemein scheint Betterov von einem gewissen Weltschmerz getrieben zu sein oder zumindest mit der ihn umgebenden Welt zu fremdeln. Er singt von seinem „merkwürdigen Leben“, davon, zu seinen Mitmenschen „ein schwieriges Verhältnis“ zu haben, und beklagt, dass alles um ihn herum eines Tages „in Trümmern“ liegen werde. Wer so mit der Welt hadert, braucht einen Zufluchtsort. Bei Betterov war das früh die Kunst, und ganz konkret ein kleines Theater in der Nähe des Thüringer Dorfes, in dem er aufwuchs. Hier war er eigentlich für die Musik zuständig, fand sich aber bald auch auf der Bühne wieder und entdeckte so seine Liebe zum Schauspiel, die ihn bald für ein entsprechendes Studium an die Universität der Künste nach Berlin führte.
Das Studium empfand Betterov als „wahnsinnig intensive Zeit“, in der er allerdings kaum die Möglichkeit hatte, Berlin richtig zu erkunden. Nach den langen Tagen an der Schauspielschule spielte Betterov abends aber oft live in Bars, verweilte auch nach seinen Auftritten noch ein wenig in den Etablissements und lernte so immerhin das Berliner Nachtleben kennen: „Von dem, was mir nach den Auftritten in den Hut geschmissen wurde, blieb über den Abend selten viel übrig“, erzählt er schmunzelnd.
Trotz seiner disziplinierten Tage an der Schauspielschule entwickelte Betterov so auch eine Faszination für die Nacht, die auf einigen Tracks auf dem Album anklingt. Der Song „Bring mich nach Hause“ zum Beispiel erzählt von der betrunken-sentimentalen Taxifahrt eines einsamen Großstadtvagabunden durch die dunkle Metropole, die er an den Fenstern vorbeiziehen sieht, zu der er aber jeden Bezug verloren hat. Und im Song „Dussmann“ heißt es: „Ich ignorier den Tag, und ich warte, bis er vorbeigeht / Als wäre ich der einzige, verstehe ich die Welt nicht.“

Tagsüber ist Betterov nach wie vor mit seinem Schauspielstudium beschäftigt. Integraler Bestandteil, selbstverständlich: verschiedene Rollen anzunehmen und auf der Bühne zu verkörpern. Damit verbunden ist die Frage danach, was die Identität eines Menschen überhaupt ausmacht, und ob man sie so wechseln könne wie Kleider, wie der Ich-Erzähler aus Max Frischs „Gantenbein“ es behauptet. In den Texten von Betterov deutet sich ebenfalls oft eine nur lose Verbindung zwischen dem Subjekt und seiner Identität an: „Ich sehe mich auf Bildern, aber ich kann mich nicht erinnern“, singt Betterov in einem Song. In einem anderen geht es um den Wunsch, sein altes Ich abzustreifen und ein neuer Mensch zu werden. Oder doch nur als ein anderer wahrgenommen zu werden? Betterov fremdelt nicht nur mit seiner Umgebung – sondern auch mit sich selbst.
Benannt hat sich Manuel Bittorf, wie Betterov bürgerlich heißt, nach einer Nebenfigur aus der dänischen Filmreihe „Die Olsenbande“, Ganovenkomödien, die in der DDR äußerst populär waren, während in der Bundesrepublik kaum jemand Notiz von ihnen nahm. Wie unterschiedlich das kollektive Gedächtnis in Ost- und Westdeutschland auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch ist, begriff Betterov erst so richtig, als er nach Berlin kam: „Bei mir zuhause war die Erinnerung an die deutsche Teilung immer total präsent. Als ich dann aber zum Studieren hergekommen bin, habe ich gemerkt, dass das nur bei mir so ist. Leute, die im Westen aufgewachsen sind, wissen da teilweise nichts drüber. Das fand ich wirklich unfassbar.“

Denn bei ihm zuhause ist die deutsche Teilungsgeschichte noch ganz deutlich spürbar. Sein Heimatdorf liegt in der unmittelbaren Nähe zur ehemaligen Grenze: „Wenn man von dort einige Kilometer fährt, ist man im Westen, und das ist extrem spannend: die Architektur, wie die Leute reden; obwohl es nur zehn Kilometer sind, bemerkt man schon einen riesigen Unterschied“, sagt Betterov in den Hansa Studios, aus deren Fenstern man vor gar nicht so langer Zeit noch DDR-Soldaten bei ihren Patrouillen entlang der Mauer beobachten konnte.
Betterov: „Olympia“ (Betterov/Island/Universal)


