Der Titel „Wolf“ lässt eine Tiergeschichte erwarten, doch diese Erwartung wird wie einige weitere in dem Buch nicht eingelöst. Saša Stanišić, berühmt durch seine Romane „Vor dem Fest“ und „Herkunft“, hat ein Kinderbuch veröffentlicht, ein sehr gutes. Sein Ich-Erzähler muss ins Ferienlager. Er kann die Natur nicht leiden, ist kein Freund von Abenteuern zum Selber-Erleben, er liest lieber.
Lange drückt er sich beim Erzählen davor, seinen Namen zu verraten. Das ist ein schöner kleiner Trick des Autors, bei dem man merkt: Der Name ist für die Geschichte nicht wichtig. Nur die Nacherzählung wäre einfacher mit ihm.
„Natürlich sind wir alle anders, bla, bla“
Das Ich ist also in vielen Punkten anders als die mitreisenden Kinder. Anders und unauffällig. Nicht wie Jörg, neben dem er im Bus landet, mit dem er die Hütte teilen wird. Stanišić schreibt: „Jörg ist halt so einer, kennt jeder. Einer, der anders ist, und, bitte, versteh mich nicht falsch! Natürlich sind wir alle anders, bla, bla.“
Der Autor greift auf, was wohlmeinende Erwachsene behaupten, wenn sie Kinder in ihrer Individualität unterstützen wollen. Solche Worte helfen wenig, wenn jemand wegen seiner Redeweise oder seines Eifers, seiner Kleidung oder seiner körperlichen Merkmale von den Meinungsführern zum Mobbing ausgesucht wird.
„Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du?“ Der Erzähler entschuldigt sich für das erfundene Wort. Er reflektiert öfter sein Erzählen: „In dieser Geschichte hier bin ich der Miesepeter, aber ein bisschen sympathisch, und Jörg ist das Opfer. Das Ende habe ich mir noch nicht überlegt.“
Eine Woche umfasst die Handlung; Jörg fällt oft auf und der Erzähler wird darunter leiden, dass er nicht mutig genug ist, ihm klar beizustehen. Er ist zerrissen zwischen seinem eigenen Fremdheitsgefühl diesem Jungen gegenüber und der Sorge vor den Folgen seines Muts. Das formuliert Stanišić nicht aus, er zeigt es, fügt es ein zwischen lustige und beunruhigende Momente.
Der Wolf steht für ein Gefühl
Der Wolf des an der Natur nicht interessierten Erzählers ist nicht aus Fleisch und Blut, aber durchaus gefährlich. Stanišić nimmt ihn als magisches Bild für die Angst, dessen Bedeutung sich auch jüngeren Lesern erschließt. Das Ende dieses Kinderromans ist in einer Weise offen, die zum Weiterdenken zwingt, nein: einlädt. Der Erzähler macht keinen Druck, er umgarnt sein Publikum mit dem Klang seiner Sätze und der Dringlichkeit seines Themas. Die Bilder von Regina Kehn tragen wunderbar die Stimmung mit.
Saša Stanišić: Wolf. Ab elf Jahren. Carlsen, Hamburg 2023. 192 Seiten, 14 Euro


