Es ist ein bisschen wie früher, als Sex-Szenen in Filmen noch etwas Besonderes waren, und man im Kino von Beginn an auf das wartete, wovon die anderen erzählt hatten. Wo sind denn nun die Flüchtlinge in Uwe Tellkamps neuem Buch? Diesem geht ein Geraune voraus, dass man sich disziplinieren muss, nicht eine Meinung darüber zu haben, bevor man zu lesen anfängt. Hintergrund ist Uwe Tellkamps 2018 in einer Diskussion geäußerter Satz, 95 Prozent der Flüchtlinge kämen nur nach Deutschland, um in die Sozialsysteme einzuwandern. In einem Fernseh-Porträt für 3sat relativiert er den Satz, indem er das Wörtchen „um“ als Fehler bezeichnet. Hinzu kommt, dass Tellkamp 2020 einen Text in der umstrittenen Reihe „Exil“ in Susanne Dagens Edition Buchhaus Loschwitz veröffentlichte.
Von Flüchtlingen ist sogar ziemlich früh in dem Roman „Der Schlaf in den Uhren“ die Rede. Er geht hier zurück in die Handlungszeit seines so erfolgreichen Romans „Der Turm“, der zwar mit den Uhren aufhört, die den 9. November 1989 anschlugen, aber die letzte Szene gilt dem Aufruhr am 3. und 4. Oktober rund um den Dresdner Hauptbahnhof, als die Züge mit den DDR-Flüchtlingen aus der Prager Botschaft durchfuhren. Menschen, die gern noch aufgesprungen wären, wurden von Polizei und Armee zurückgeprügelt. Flüchtlinge, die in den Westen wollten – wegen der Sozialsysteme? Oder nicht doch, um sagen, schreiben, lesen und sehen zu können, was man will?
Tellkamps Chronik der Wende
Eine Ebene des Buches funktioniert wie eine Chronik der Wende, der friedlichen Revolution. Es gibt also diese Kämpfe um den Hauptbahnhof, die Versuche, zu verhandeln; in der Semperoper steht das Publikum auf, als der Gefangenenchor singt. Eindringlich erzählt sind die Zustände auf dem Gelände der Prager Botschaft selbst; Flüchtlingselend in Enge und Ungewissheit, mit Krankheiten und sanitärem Notstand. Erlebt werden sie von Alexandra Barsano, der Tochter des Dresdner SED-Chefs in Prag, und von Muriel, der Zwillingsschwester Fabian Hoffmanns, der im Roman zeitweise als Erzähler auftritt. Alexandra und Muriel sind auch fünfundzwanzig Jahre später noch da, auf der zweiten Ebene des Romans.
Oder sollte sie besser „die Gegenwarts-Schicht“ genannt werden? Zeichnungen auf dem vorderen und hinteren Vorsatzblatt des Buches zeigen einen akribisch gekritzelten Lage- und Gedankenplan. Er stellt wohl die komplizierte Struktur des Romans dar, spiegelt aber eher deren Problem. Uwe Tellkamp hat sicher zu jeder seiner Figuren, zu jedem Ort, ob Dresden oder die DDR (hier: „Kohleninsel“) oder das vereinigte Deutschland (hier: „Treva“), genaue Vorstellungen. Und er gestaltet einige der Beziehungen zwischen den Personen, Rückblicke und Handlungen der Roman-Gegenwart plastisch. Daneben stehen hoffnungslos überladene Strecken und einiges, was anregend beginnt, fasert aus. Das ganze Gefüge wirkt oft wie mühsam zusammengeschoben. Der unruhige Eindruck der Skizzen entspricht der Verwirrung beim Lesen. Am Ende der Fernsehdokumentation gibt Uwe Tellkamp eine knappe inhaltliche Einführung in das Buch, die andeutet, wie es hätte sein können, wenn er es entsprechend strukturiert hätte.
Die Wahrnehmung des Autors hat sich zweimal umgekrempelt
Der Untertitel „Archipelagus I“ verweist darauf, dass es eine Fortsetzung geben wird. „Der Schlaf in den Uhren“ hieß bereits der Text, mit dem der Schriftsteller 2004 mit 35 Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und als Literaturhoffnung gefeiert wurde. Der damals gelesene Text findet sich bearbeitet in dem neuen Buch wieder. Seither jedoch hat sich die Wahrnehmung Tellkamps zweimal umgekrempelt. 2008 erschien sein Roman „Der Turm“. Dafür wurde ihm zuerst der Uwe-Johnson-Preis zuerkannt, dann der Deutsche Buchpreis. Der Autor wurde eine Art Star.
In das Warten auf sein nächstes Buch fielen die Ereignisse in Folge der Immigration nach Deutschland, fiel Tellkamps Solidaritäts-Unterschrift unter eine Erklärung gegen die Ausgrenzung rechter Verlage auf der Buchmesse und seine Abwehr der Integrationspolitik. Der Autor wurde ein Polit-Phänomen.
Das Schreiben hat er darüber nicht verlernt. In dem neuen Buch gibt es eine ausdrückliche Würdigung Uwe Johnsons, an der man ein bisschen sehen kann, wie Tellkamp arbeitet. „Ich kannte Johnson nur von einem bei Hermes erschienenen Auswahlband, ,Eine Reise wegwohin‘, den Meno für mich beiseite gelegt hatte, Bückware natürlich, Kurzprosa.“ Meno, Onkel des Erzählers, arbeitet in einem Verlag. Der steht hier für Aufbau, wo 1989 das einzige Buch mit Texten des Republikflüchtlings Uwe Johnson erschienen war. Tellkamp erzählt, welche Leute versuchten, mit Gutachten und Briefen Johnson „im Osten wieder anwesend zu machen“. Die kulturpolitische Misere der DDR ist damit gut gefasst. Einen anderen Einblick gibt er mit den drei Mänteln, die der Buchminister je nach Situation trug, da denkt man an die Wendung vom Mäntelchen im Wind. „Charakterzwitter“ schreibt Tellkamp über ihn. Samtleben heißt der Mann im Roman, nicht Klaus Höpcke wie im Leben.
Die sympathischen Figuren tragen Klarnamen
Als sie selbst tauchen etwa die Leute vom Neuen Forum wie Bärbel Bohley und Jens Reich auf. Klarnamen zeigen offenbar die Sympathie des Autors. Er widmet sich der DEFA mit Egon Günther und Herrmann Zschoche, erwähnt im Verlauf bildende Künstler und Schriftsteller, die in der DDR eigenständig blieben. Wer die Zeit miterlebt hat, erkennt vieles wieder.
Und Tellkamp kommt auch im Buch vor: „Seit dem Auftritt des T. in der trevischen Philharmonie, bei dem er 95 Prozent der Flüchtlinge bezichtigte, zu uns nur der Sozialleistungen wegen zu kommen, sind mehr als drei Jahre vergangen, aber noch immer meldet sich der T. mit kruden Thesen, den von Rechten sattsam bekannten Opfermythen, zu Wort.“ Mit „T.“ und „K.S.“, der Schriftstellerin Kathrin Schmidt, die wegen ihrer verharmlosenden Aussagen zu Corona angegriffen wurde, probiert er eine Satire auf den Medienbetrieb.
Werk und Autor gehören zusammen, das weiß man, das zeigt er. In dem Roman ist Anne, die man aus dem „Turm“ noch als Krankenschwester kennt, Bundeskanzlerin. Angesichts der Angriffe gegen die Flüchtlinge wird die sonst Zögerliche konkret, wendet sich gegen „diese Rassisten, diese Pöbler“. Tellkamp schildert eine dann losgetretene „Medien-Operation ‚Gold‘“, die eine Willkommenskultur propagiert. Er illustriert also seinen Vorwurf, die Medien schrieben alle das Gleiche. Das Thesenhafte steht dem Erzählen im Wege. Letztlich beschädigt der Autor damit seinen Roman.




