Ulrich Woelks „Mittsommertage“ spielt vor 13 Monaten, das ist für einen Roman eine seltene zeitliche Nähe zum Leben jener, die es jetzt lesen werden. Die Ereignisse – wie stand es mit der Maskenpflicht, wie war das Wetter? – und erst recht die Atmosphäre bekommen damit eine riskante Nachprüfbarkeit, der Woelk als versierter Beobachter der Gegenwart völlig gewachsen ist. Wir alle beobachten doch ohne Unterlass die Gegenwart, zwangsläufig, werden Sie jetzt sagen. Aber es ist womöglich nur die Literatur, die sie in Worte für eine halbe Ewigkeit bannen kann. Dies noch dazu in freier Erfindung. Man denkt sich etwas aus, und die Menschen erkennen es wieder.
Auch Woelks Erfindung ist frei, und doch ist seine Geschichte hervorragend wiederzuerkennen, eine Geschichte, umso erstaunlicher, in der es dicke kommt. Aber wenn zum Beispiel die Dialoge etwas Schablonenhaftes zeigen, weil das Individuelle hinter schon tausendmal passierten Standarddramen zurücktritt, dann fällt einem auch bloß ein, wie grotesk, unecht und abgegriffen gerade die emotional bewegten Momente sind. Dann sagt eine vernünftige, gebildete Frau zu ihrem Mann: „Du fickst deine Sekretärin.“ Und der Mann antwortet, das sei nicht seine Sekretärin. Oder ein junger Aktivist sagt zu einer jungen Aktivistin: „Glaubst du, dass wir das Richtige tun?“ Und seine nächste Frage, für ihn nicht minder wichtig oder sogar wichtiger, lautet, wann sie endlich für ihn ihren Freund verlässt.
Forschend und dennoch leicht
Solche Szenen haben auch ihren eigenen, stillen Humor. Das hängt mit der Heldin des Romans zusammen, aber auch mit Woelks Grundton, der forschend und dennoch leicht ist. Auch hängt es vermutlich mit der Jahreszeit zusammen, die es nicht umsonst in den Titel geschafft haben wird.
Sieben Tage, Montag bis Sonntag, im Juni 2022. Die Wochentage sind auch die Kapitelüberschriften, was nicht nur handlich ist – beim Schreiben wie beim Lesen –, sondern auch eine Art Crescendo verspricht und bietet: Das läuft auf etwas hin, nur weiß man noch nicht, was.
Auch die sympathische Ethikprofessorin Ruth Lember, aus deren Perspektive Woelk in der sinnvoll abkühlenden und unaufdringlichen dritten Person erzählt, kann es nicht wissen. Im Gegenteil. Sie denkt sich nichts weiter dabei, wenn es am Montag auf der ersten Seite heißt: „Sie hat Lust auf diesen Tag und die vor ihr liegende Woche.“ Während das erfahrene Publikum ahnt, dass sich hier eine erste Warnung verbirgt (nur im Lore-Roman wird die Woche, auf die die Heldin Lust hat, schön). Die zweite Warnung ist schon deutlicher: Beim Joggen am Lietzensee wird Ruth Lember wenige Seiten später von einem Hund gebissen. In der Begegnung mit der überforderten Hundebesitzerin packt Woelk das feine Besteck für die Schilderung zwischenmenschlicher Kommunikation aus: Ruth ist sauer und streng, lässt die Frau aber davonkommen. Kommt ihr auch nicht so schlimm vor. Nur brennt die Wunde zehn Seiten später immer noch, noch mehr.
Woelks Kunst besteht nun nicht zuletzt darin, uns beiläufig in das Leben einer bis dahin gänzlich Fremden zu verwickeln. Zuletzt hat er das mit „Der Sommer meiner Mutter“ (2019) und „Für ein Leben“ (2021) erfolgreich durchprobiert – nach dem Erscheinen der Woelk-Romane kann man sich nicht die Uhr stellen, aber der Zweijahrestakt ist verlässlich.
Ruth Lember, die demnächst 55 Jahre alt wird, lehrt also Ethik. Man hört ihr zu – sie hört sich selbst zu –, wie sie über „kritische Urteilskraft“ und „Rechtfertigungsordnungen“ doziert, Begriffe, die sich wie Kommentierungen oder Überschriften zur sich allmählich entfaltenden Romanhandlung verhalten. Just diese Woche bekommt Ruth ihre offizielle Berufung in den Ethikrat. Das ist das Einzige, was sie am Anfang über die bevorstehenden Tage weiß.
Bald taucht aber auch ein Mann aus ihrer Studentenzeit auf, mit dem sie nicht nur Liebe und Freundschaft verbindet. Und sie gibt, schon eine Nuance abgelenkt, ein Interview und ist bei der Autorisierung der Textfassung ein wenig lax – es gibt übrigens eine ähnliche Situation in Verena Kesslers neuem Roman „Eva“, der ebenfalls flirrt vor Gegenwärtigkeit. Zur Gegenwärtigkeit gehört, dass mediale Fehleinschätzungen oder Salopperien sich rächen können.
Aber, auch das macht diese Woche deutlich, die Welt geht nicht davon unter. Woelk zeichnet wunderbar fein nach, wie Dinge schiefgehen und welche Mechanismen, zusammenmontiert aus Unkonzentration, Beleidigtsein oder auch Großmütigkeit und Nonchalance, dazu führen. Er hat aber, wie seine Heldin auch, einen guten Blick für die Trennung zwischen wichtigen und unwichtigen Ereignissen.
Die Tragödie lauert
Es könnte gut sein, dass die an sich gut gelaunte und tief vertraute Ehe mit einem smarten Architekten – „er trocknet sich das Gesicht ab, das Geräusch dabei ist ein anderes, seit er den kurzen Vollbart trägt“ – diese sieben Tage nicht überstehen wird. Es könnte sich auch die Frage stellen, ob der Auftritt des Uraltfreundes nicht eine erpresserische Seite hat (hat er das?). Es ist ferner zum Verzweifeln, wie naiv sich die Tochter des Architekten verhält, Ruth Lembers geliebte Stieftochter. Einen körperlichen Zusammenbruch und einen kleinen Autounfall hat sie auch noch. An vielen Kreuzungen könnte „Mittsommertage“ in eine Tragödie umschlagen, einen Krimi, ein Melodram.
Erstens aber versteht Woelk die Menschen viel zu gut, die mehr wegstecken können als gemeinhin angenommen wird. Zweitens entwickelt sich, passend zu Ruth Lembers Beruf, eine Gemengelage, in der die großen ethischen Fragen zur Sprache kommen. Sie sind das, was wichtig ist. Auf den Berliner Straßen kleben die Klimaaktivistinnen und -aktivisten, und einige Autofahrer (vielleicht auch Autofahrerinnen, denkt Ruth, aber bei denen ist es ihr noch nicht aufgefallen) benehmen sich, als seien das terroristische Akte und als sei das überhaupt das wesentliche Problem (und nicht, zum Beispiel, die Autos). Das Aggressionspotenzial ist enorm. Ruth selbst beobachtet das mit Ruhe, Nachdenklichkeit und nicht ohne Sympathie.
Zu ihrer eigenen Vergangenheit, eine Achtzigerjahre-Anti-AKW-Vergangenheit während des Studiums in Marburg, gehört aber, wie sich zeigt, gleichfalls ein Akt des drastischeren Protests. Hochgemut vorbereitet, tapfer ausgeführt, dann schrecklicher als erwartet. Die junge Ruth ruft den jungen Menschen des Sommers 2022 nun gewissermaßen unfreiwillig aus der Vergangenheit zu, „dass es im Prinzip Umstände gibt, unter denen ziviler Widerstand und sogar Sabotage legitim sind“. Denn das Bekennerschreiben von damals ist noch da, abgeschickt wurde es nicht. Zu schockierend die Realität.
Jetzt, wo sie all das einholt, hat Ruth Lember Grund, sich nach der Verjährung von Sachbeschädigung zu erkundigen, denn mehr war es dann auch wieder nicht, was die justiziable Seite betrifft. Selbst das damals zu Tode gekommene Tier – sie fühlt sich seither von Tieren gehasst – scheint ihr nach dieser desaströsen Woche zu verzeihen. Versöhnlichkeit steht im Raum. Außerdem steht im Raum, dass es im Prinzip Umstände gibt, unter denen ziviler Widerstand und sogar Sabotage legitim sind. Ohnehin steht im Raum, Dinge zu Ende zu denken.
Und das Wetter? Und die Maskenpflicht? In „Mittsommertage“ sind die Tage schön, aber noch nicht zu heiß. Die Maskenpflicht fällt allmählich. So könnte es auf jeden Fall gewesen sein. Interessant allerdings: Die abklingende Corona-Zeit kommt einem vor wie eine andere Ära. Vergangenheit entfernt sich unterschiedlich schnell.



