Roman aus Dänemark

Als der Hunger nach Leben und Sinn sich in einem Schlüsselwort bündelte: Party

„Tour de Chambre“, der zweite Roman der 1985 geborenen Tine Hoeg, ist in Dänemark ein Bestseller. Die Autorin tastet sich in die Vergangenheit.

Tine Høeg, geboren 1985, lebt in Kopenhagen.
Tine Høeg, geboren 1985, lebt in Kopenhagen.Laerke Posselt

Asta und Mai sind in der dritten Phase ihrer Jugend angekommen und blicken nach zehn Jahren zurück auf eine Zeit, in der sie wurden, was sie jetzt sind. Eine „Tour de Chambre“ wurde damals zum tragischen Höhepunkt ihres an sich normalen Studentinnenalltags, als im gemeinsamen Studentenheim August ums Leben kam.  

Tour de Chambre, der Begriff, der Tine Hoegs zweitem Roman den Titel gibt, das ist eine skandinavische WG- und Uni-Tradition. Jedes Zimmer steht für eine Nacht unter einem anderen Motto. Man zieht von Tür zu Tür und hofft auf kreative Trinkspiele – oder hofft eigentlich auf mehr. Mai war zu jener Zeit mit August zusammen und Asta ihm über die Liebe zur Poesie eng verbunden, so eng, dass Mai davon nie hätte etwas erfahren dürfen.

Was ist von all dem nach zehn Jahren geblieben? Die Zeit der Kirschen ist vorbei. Die Suche nach der Liebe und dem wahren Leben schmeckt jetzt anders. Weniger bitter, weniger süß als damals zwischen Prüfungsängsten, Liebschaften, Küchen – und Kochsauereien, als der Hunger nach Leben und Sinn sich in einem Schlüsselwort bündelte: Party!

August ist längst tot

Ein Zimmer mit Balkon hat für die Ich-Erzählerin Asta längst das Zimmer im Studentenheim ersetzt. Mai hat einen vierjährigen Sohn, ohne Vater dazu. Asta schreibt an ihrem zweiten Buch und kümmert sich manchmal um Mais kleinen Bertram. Und August, der ist längst tot. Tine Hoegs Roman ist inhaltlich kein ungewöhnlicher. Aber er ist es formal. Nach jeder Idee, jeder Sinneinheit muss die Autorin die Enter-Taste gedrückt haben: Sprung, Zeilenumbruch, neuer Absatz. So passen auf jede Buchseite kaum 20 bis 25 kurze Zeilen mit viel Luft dazwischen. Doch was wäre das Leben ohne Luft zum Atmen?

Bei jedem Satz, den die Erzählerin in Position bringt, muss neu abgeleitet werden: Wer sagt das, und wo? Die wörtliche Rede ist nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet, und ob Asta gerade als melancholische Erwachsene schreibt oder als ein Ich, das zehn Jahre jünger ist, bleibt oft viele Sätze lang in schöner Schwebe. Erleben und Erinnern stehen sich auf Augenhöhe gegenüber. Sog und Rhythmus entstehen durch das schnelle Klappen der Synapsen im Kopf der erzählenden Tine Hoeg und schaffen Platz für das Ungesagte – könnte man jetzt sagen.

Ein „Romankonzert“ mit diesem Buch

Doch eigentlich schafft dieser eigenwillige, sprunghafte Rhythmus Platz für das, was übersehen wurde und immer wieder in Lebens – und Liebesgeschichten übersehen wird. Das situative Erzählen der Tine Hoeg ist dem Theater verwandt, und doch ist ihr Text kein Theaterstück. Denn Theaterstücke lesen zu müssen ist meist eine anstrengende Sache. „Tour de Chambre“ hingegen ist weder ein anstrengender noch ein schwieriger oder sperriger Text, sondern einer, der sich mit Wärme und Unsicherheit in Vergangenes und Gegenwärtiges hineintastet, bis er aneckt.

Tine Hoeg ist 1985 geboren, studierte Dänisch und Philosophie und lebt jetzt in Kopenhagen. Nach ihrem Debüt „Neue Reisende“ (2020 auf Deutsch) ist „Tour de Chambre“ ihr zweiter Roman, der es in Dänemark schaffte, Bestseller zu werden. Im Königlichen Dänischen Theater wurde er im vergangenen Jahr als Romankonzert aufgeführt. Das passt.

Tour de Chambre by Tine Hoeg
Tour de Chambre by Tine HoegDroschl

Tine Hoeg: Tour de Chambre. Roman. Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich. Literaturverlag Droschl, Graz 2022. 298 Seiten, 25 Euro