Literatur

Roman „Vista Chinesa“ von Tatiana Salem Levy: Vom Leben nach der Vergewaltigung

Eine junge Frau wird überfallen und vergewaltigt. Jahre später verarbeitet sie schreibend ihr Trauma.

Die Autorin Tatiana Salem Levy
Die Autorin Tatiana Salem LevyJulia Seloti

Rio de Janeiro, 2014. Die junge Architektin Júlia verlässt das Haus, sie geht joggen. Eine asphaltierte Straße zur Vista Chinesa, der beliebten Aussichtsplattform in Rios innerstädtischem Regenwald, der die alteingesessenen bairros im Zentrum von den poshen Strandvierteln im Süden trennt. Unzählige Male ist sie diese Strecke schon gelaufen, doch an diesem Nachmittag kommt sie nie oben an. Plötzlich spürt sie eine Waffe an ihrem Kopf, plötzlich wird sie vom Angreifer ins Dickicht gezerrt, gedemütigt und brutal vergewaltigt.

Tatiana Salem Levys kurzer und nervenaufreibender Roman „Vista Chinesa“ – ihr erster in deutscher Übersetzung – erzählt von den Nachwirkungen dieses real erlebten Alptraums. Júlia überlebt ihn, heftig traumatisiert, beginnt eine Therapie, sucht Halt in der Arbeit und in ihrem privaten Umfeld. In Mexiko findet sie zurück zu ihrem Begehren, heiratet bald danach ihren Freund und wird Mutter von Zwillingen. Eine Weile sieht es so aus, als läge im Vergessen der einzige Weg zurück ins Leben. Doch Jahre später entscheidet sich Júlia gegen die Verdrängung und für das Erinnern. Sie beginnt einen Brief an ihre eigenen Kinder, um sie vor der Erbschaft ihres Traumas zu bewahren und den „verwischten Bildern“ von damals eine Form zu geben. Zu diesen Bildern gehört auch das Gesicht des Täters, das sie der Polizei wieder und wieder beschreibt, wobei immer deutlicher wird, dass es der nicht um Wahrheit geht, sondern vor allem darum, einen Verdächtigen aus prekären Verhältnissen ins Gefängnis zu stecken.

Eine Geschichte extremer Gewalt

Die Geschichte Brasiliens ist auch eine Geschichte extremer Gewalt. Als erstes denkt man heute wohl an Bandenkrieg und Entführung auf offener Straße oder an gepanzerte Spezialeinheiten, die in die Armenviertel einfallen. An Besatzungstruppen, an Polizisten, die Schulkinder erschießen. All das ist zwar traurige Realität in dem Land, das 1888 als letztes die Sklaverei verbot, doch es ist auch das serientaugliche Ende einer Blutspur, die beim Völkermord an den Indigenen beginnt und sich bis zu zwanzig Jahren Militärdiktatur nachverfolgen lässt. Und heute? Heute regiert Bolsonaro mit verbalen Messerstichen, feiert Folter als patriotische Tat und greift eine Politikerin mit den Worten an: „Du bist so hässlich, dich würde ich nicht mal vergewaltigen.“

Aber das ist nur die eine Seite. Denn Brasilien ist auch das Land robuster Gewerkschaften und mutiger Demokratiebewegungen. Lulas Sozialpakete hievten nicht nur Millionen Menschen aus bitterer Armut – auch die Mittelschicht profitierte von der Kulturpolitik der Arbeiterpartei. Gegen den Widerstand des eigenen Präsidenten erkämpfte man sich hier eine der höchsten Impfquoten weltweit. Gegen die Zerstörung von Natur und Leben formiert sich, bestens vernetzt, linker und indigener Protest. Die afrobrasilianischen Communities sind die kreativsten, unbekümmertsten und queersten des Kontinents.

Die Protagonistin weiß um ihre Privilegien

„Vista Chinesa“ bringt beides behutsam zueinander, ohne dass dabei das Schicksal der Protagonistin zum Spielball von Allegorien wird. Die weiße Júlia gehört zur oberen Mittelschicht, sie ist gebildet, körperbewusst, die „disziplinierte, organisierte Architektin“. Sie weiß um ihre Privilegien und dass struktureller Rassismus Brasilien noch fester im Griff hat als die USA. Das ziellose Suchen nach dem Täter, die Rachefantasien der Angehörigen, die Bevormundung, woran traumatisierte Gedächtnisse sich erinnern dürfen und woran nicht – all das ließe sich als zweite, als Retraumatisierung erzählen.

Doch Levy Salem will mehr. Was, wenn Júlia den falschen Täter benennt? Je zäher die Sitzungen im Polizeirevier werden, umso mehr wird sie sich einer Macht bewusst, die sie nicht wegen ihres Opferstatus, sondern nur aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung besitzt. Eine Macht, das Leben eines unschuldigen Menschen zu zerstören. Indem Júlia vom Opfer zur Erzählerin wird, schafft sie den Sprung von der ohnmächtigen Patientin zurück in die Sphäre der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit. Den Weg zurück in ein Leben findet sie nicht im Vergessen, sondern in der wiedergewonnenen Befähigung zu Irrtum und Schuld.

Erzählen ist riskant und muss sich entscheiden. Im Suchen nach den „richtigen Wörtern“, an die Júlia ihr Überleben hängt, lassen sich auch immer die falschen wählen. Für „Vista Chinesa“ musste sich Salem Levy dieser Herausforderung gleich zweimal stellen, denn in Júlias Geschichte steckt auch die einer engen Freundin. Aus der Dringlichkeit ihrer Erinnerungen nährt sich die Erzählung. Und aus ihren Wunden, von denen die Autorin im Nachwort schreibt, sie „waren nicht nur tief, sie waren auch an der Oberfläche“. Nicht immer gelingt es Salem Levy, dieser Dringlichkeit literarisch ganz gerecht zu werden. Aber vorwerfen, sie hätte die Herausforderung nicht angenommen, kann man ihr zu keinem Moment.

Tatiana Salem Levy, Vista Chinesa, aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis, Secession, Zürich 2021. 128 Seiten, 22 Euro.