Literatur aus Norwegen

„Der Morgenstern“ von Karl Ove Knausgård: Zwischen Verheißung und Weltuntergang

Zum Glück war Knausgård, als er den Roman „Kämpfen“ schrieb, mit der Literatur doch noch nicht fertig. Das neue Buch ist ein großer Wurf.

Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove KnausgårdIMAGO/TT

Ist Karl Ove Knausgård ein religiöser Autor? Die Frage mag alle überraschen, die vor allem sein autobiographisches Projekt „Min Kamp“ kennen. Wenig beachtet dagegen – damals war er noch nicht so berühmt – wurde sein erster Roman auf Deutsch, „Alles hat seine Zeit“, 2007 erschienen. Der Titel zitiert das Bibel-Buch „Der Prediger Salomo“, der Roman spielt heute, aber es geht um Engel und Figuren des Alten Testaments. Auch in Knausgårds „Morgenstern“ spielt die Religion eine große Rolle, und zwar dergestalt, dass man ihn vielleicht nicht als religiösen Autor bezeichnen kann, aber durchaus als einen, der die Religion ernst nimmt.

Wir folgen zehn Personen im norwegischen Bergen, der schönen, aber regenreichen Stadt am Meer, in der das Wetter oft zwischen sonnigen Phasen und Wolkenbrüchen schwankt. Zwar sind die zehn Menschen in Alter und sozialem Status sehr verschieden, aber etwas eint sie doch: Einerseits kreuzen sich ihre Lebenswege, was im überschaubaren Bergen nicht so überraschend ist, andererseits und besonders stecken alle in einer Lebenskrise.

Knausgårds Figuren und ihre Krisen

Der Literaturprofessor Arne sorgt sich um seine manisch-depressive Frau Tove, eine Künstlerin. Die Pastorin Kathrine erkennt plötzlich die Leere ihres Daseins und will nicht mehr zurück zu Mann und Kindern. Dem Kindergärtner Emil ist angst und bange, weil er ein Kind vom Wickeltisch hat fallen lassen, ohne das zuzugeben. Die junge, talentierte Iselin, auf die ihr Lehrer große Stücke hielt, lässt sich von ihren Selbstzweifeln beherrschen und begnügt sich damit, Kassiererin zu sein. Die Krankenschwester Solveig fragt sich, was ihre Tochter Line quält. Der ebenso desillusionierte wie selbstgefällige Journalist Jostein lässt sich volllaufen und ist auf der Suche nach dem Scoop seines Lebens: Er will die vermissten Mitglieder einer Death-Metal-Band finden; passagenweise erscheint der Roman hier wie eine Parodie auf gewaltpornographische schwedische Krimis.

Zu den Lebenskrisen der Figuren passen die häufig auftretenden rätselhaften Zeichen: unzählige Krebse, die im Wald herumkrabbeln, ein totgetretenes Kätzchen, eine Leiche, bereit zur Organentnahme, die wieder die Augen aufschlägt, ähnlich wie der tote Mann, der eben noch mit jemandem im Flugzeug saß – all das verheißt nichts Gutes. Das untrüglichste Zeichen aber, dass etwas nicht stimmt, ja, dass die Welt am Abgrund stehen könnte, ist ein neuer Stern, der plötzlich am Himmel erscheint: der Morgenstern.

2011 ließ der dänische Regisseur Lars von Trier in seinem Endzeitfilm „Melancholia“ einen Planeten auf die Erde zurasen. Aber von Trier ist eindeutig pessimistisch, bei ihm wird der Untergang geradezu vorausgesetzt: „Die Erde ist der einzige Planet, auf dem Leben ist. Und das nicht für lange“, heißt es bei ihm. Dieser einseitige Pessimismus wird bei Knausgård durch die religiösen Meditationen und Reflexionen verhindert. Schon wahr, der Morgenstern wird im Alten Testament, bei Jesaja, mit Luzifer in Verbindung gebracht. Aber er ist eben auch – und ganz wichtig: zum Abschluss, nämlich in der „Offenbarung“, dem letzten Buch des Neuen Testaments – ein Synonym für Jesus selbst, der von sich sagt: „Ich bin der helle Morgenstern.“ Das heißt, die Figuren befinden sich unter diesem neuen Stern in einer Krise, die wie im Griechischen als „Entscheidung“ verstanden werden kann: als Entscheidung zwischen Apokalypse und Verheißung.

Knausgård schreibt wieder einen Essay im Roman

Es gibt eine Figur im Roman, die dem Autor zweifellos am nächsten steht: ein gewisser Egil, ein wohlhabender Privatier und Bibelforscher. Er steuert am Ende des Romans den scheinbar unverbunden angehängten Essay „Über den Tod und die Toten“ bei. Essayistische Passagen inmitten des Erzählflusses sind ein Merkmal von Knausgårds Prosa. Das wird oft kritisiert, auch jetzt wurde ihm von (geschätzten) Kolleginnen „Mystery-Plunder“ und „flacher Tiefsinn“ vorgeworfen. Aber wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, muss es nicht immer am Buch liegen. Egil schreibt nicht nur über die Rolle des Todes im Laufe der Zeit, sondern auch über den Unterschied zwischen „glauben“ und „wissen“.

Lassen wir die Floskel beiseite, das Buch bringe uns zum Nachdenken (denn noch das dümmste Buch tut das), aber es bewegt unser Hirn und unsere Seele. Erstaunlich, wie einfach dieser Autor Dinge darstellt, die kompliziert sind. Das heißt nicht, dass man nicht fragen dürfte: Stellt er sie zu einfach dar, unterschlägt er das Komplexe? Ist es einfältig, wenn er den Schöpfungsmythos mit der Evolutionstheorie, wenn er die Bibel mit der Wissenschaft in Zusammenhang bringt? Oder wenn es heißt: „Ich weiß, dass Gott nicht existiert, glaube es aber trotzdem. Ich glaube, dass ich nicht sterben werde, weiß aber, dass das Gegenteil der Fall ist“?

Am Schluss von „Kämpfen“, dem abschließenden Band seines autobiografischen Projekts, schrieb Knausgård sinngemäß, er sei erleichtert, kein Schriftsteller mehr zu sein. Glücklicherweise war er mit der Literatur doch nicht fertig. Man erkennt seinen Stil, der unprätentiös und leicht ist. Sein klares Denken bewahrt den Autor vor jeder Esoterik.

Das eigentliche Skandalon ist, dass er sich keinen Gedanken verbietet, dazu gehört aber auch, dass er sich selber immer wieder Fragen stellt. Unsinnig deshalb der Vorwurf des „ausbeuterischen Schreibens“. Denn was heißt das? Dass man Stärken und Schwächen lebender (oder erfundener) Personen nicht schildern soll? Simone de Beauvoir hat nichts anderes getan, und das ist gut so. Auch der Vorwurf des „literarischen Manspreading“ (wie es neuerdings heißt) ist keine literarische, sondern eine ideologische Kritik; die weiblichen Figuren des Romans sind nämlich ebenso ausführlich gezeichnet wie die männlichen, egal ob es sich um eine Pastorin oder eine Kassiererin handelt. Jeder Figur, so unterschiedlich sie sind, schenkt Knausgård ihre eigene Stimme. Es gibt nicht viele, die das können.

Karl Ove Knausgård: Der Morgenstern. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2022. 894 Seiten, 28 Euro