Kunst

Provokant und romantisch: Wie ein Bismarck-Nachfahre Kunst und Naturwissenschaft vereint

Die Berlinische Galerie eröffnet nach dem Umbau mit einer Schau des Urururgroßneffen des ersten deutschen Reichskanzlers. Unser Kunstwerk der Woche.

Julius von Bismarck
Julius von BismarckChristoph Soeder/dpa

Julius von Bismarck lebt auf keinem Schloss oder Landgut. Sein Refugium ist eine alte Malzfabrik am Berliner Südkreuz. Viel Platz zum Werkeln, Bauen, zum Experimentieren, den er sich mit Berufskollegen teilt. Seine Medien sind Fotografie, Video, Installation, Aktionen. Und Versuchsanordnungen – vielleicht für die Rettung unserer Ökosysteme.

Die Berlinische Galerie eröffnet wieder nach monatelanger Schließzeit wegen des Einbaus eines nachhaltigen Beleuchtungssystems. Ausgebreitet ist, was den vierzigjährigen Julius von Bismarck seit seiner Studienzeit an der Berliner UdK bei Olafur Eliasson umtreibt: Es geht um die Verortung des Menschen in seiner Umwelt und das, was gesellschaftlich als Natur verhandelt wird. Er bedient sich der Dekonstruktion, weil er hinterfragen will, wie wir als Gesellschaft Natur in Form von Landschaft bewerten, und wer in diesem Bewertungsprozess die Deutungshoheit besitzt.

Und erstmals wählt er auch einen biografischen Zugang, bringt die eigene Familiengeschichte ein, nach der er ohnehin dauernd befragt wird. Ja, er ist der Urururgroßneffe Otto von Bismarcks, des „Eisernen“, des ersten Kanzlers des Deutschen Reiches (im Amt 1871–1890), Vollender der deutschen Einigung, Begründer des Sozialstaates, aber auch der Sozialistengesetze. Ein mächtiger Mann, wie der Nachfahre es weiß, jedoch zerrissen von den politischen Gemengelagen seiner Zeit, idealisiert und heftig kritisiert gleichermaßen.

Diesen Extremen in der historischen Bewertung kommt der Künstler Julius von Bismarck jetzt, anderthalb Jahrhunderte später und im 33. Jahr der deutschen Wiedervereinigung, mit einer würzigen Prise Ironie bei: mit zwei Skulpturen, die durch einen Mechanismus im Sockel einknicken, gleich jenen Spielzeugfigürchen, die Kinder mit Daumendruck wie Marionetten bedienen können. An den Urahnen erinnern damit in Lebensgröße eine Giraffe und die verkleinerte Version des Bremer Reiterstandbildes des ersten Reichskanzlers. Das kann jeder auslegen, wie er möchte: als ironische aristokratische Wurzelsuche oder auch als Nestbeschmutzung. Es kann aber gern auch als Kommentar des Künstlers zur Debatte um den Umgang mit Denkmälern im öffentlichen Raum verstanden werden.

Von Bismarcks Ausstellungstitel „When Platitudes Become Form“ bezieht sich dabei auf unsere oft denkfaul vereinfachte Wahrnehmung und Festschreibung. Seine Umdeutung von Attitüde zu Plattitüde beginnt schon in der Ausstellungshalle des Landesmuseums mit der Serie „I like the flowers“. Sie liest sich als Bekenntnis, gewürzt mit feinem Sarkasmus, der dem Zustand der Flora – der Wälder, der überstrapazierten Agrarflächen  – in vielen Teilen unserer Mutter Erde gilt.

Der Zyklus besteht aus großen Skulpturen getrockneter, samt Wurzeln extrem gepresster Pflanzen. Wir stehen vor wie im Raum schwebenden, hypertrophierten Reihen von Gewächsen. Sie könnten aus der Herbarien-Präparate-Sammlung des Naturforschers und Südamerika-Reisenden Alexander von Humboldt oder aus der Botanisiertrommel Chamissos stammen. Der Anblick ist ornamental, wie eine Reihung dekorativer Zimmerpflanzen, die mitteleuropäische Winter im Außenraum gar nicht überleben würden. Somit verorten wir diese Gewächse an Sehnsuchtsorten, weit weg in exotische Gefilden und einer anderen Hemisphäre.

Das Großfoto und der riesige Stoffvorhang „Landscape Painting (Bismarck Sea)“ von 2022 verweist auf jenes Stück Randmeer im Pazifik, wo im späten 19. Jahrhundert der Bismarck-Archipel und das nahe gelegene Kaiser-Wilhelms-Land Teil der deutschen Kolonie „Deutsch-Neuguinea“ waren. Ein Ort, der durch deutsche Kolonialherrschaft geprägt ist, eine Inselwelt, welcher der menschengemachte Klimawandel und stetig steigende Meeresspiegel zusetzt.

Das durch ein Stück unter Wasser getauchten derben Stoff entstandene Foto wird zum reliefartigen Mahnmal. Und würde der Künstler die blau-bleigraue Farbigkeit des bewegten, mal mehr oder weniger stürmischen Meereswassers gegen Rostrot austauschen, könne man glauben, auf die sich durch die Winde ständig verändernden Wellenstrukturen einer Wüste zu schauen, wie Saint-Exupéry sie in seinem Buch „Terre des hommes“ beschrieb.

Weitere geradezu bezwingende Fotos von Naturaktionen entstanden in Zusammenarbeit mit dem alten Studienfreund Julian Charrière: eine ziegelrote Felsformation irgendwo im Mittleren Westen der USA, in einem Nationalpark. Ein Naturmonument wird gesprengt, man sieht Qualm, Stau, sich lösende Gesteinsbrocken! Aber es ist glücklicherweise nur ein provokanter Fake.

Die beiden ließen prägnante Felsen in Originalgröße nachbauen, zerstörten sie und leakten die Videos so, dass der Eindruck entstand, die Sprengungen fänden tatsächlich in amerikanischen Nationalparks statt. Das fiktive Bild stellt also die Frage, wie Bedeutungszuweisungen zustande kommen und warum bestimmte Teile der Natur als wertvoller, schöner, schützenswerter als andere beurteilt werden – und durch wen.

Von Bismarck, geboren in Breisach am Rhein, aufgewachsen in Saudi-Arabien und in der Schweiz, wollte als Junge Wissenschaftler werden, wie der Großvater, der Sonnenforscher war, und wie der Vater, der als Geologe in der Golfregion arbeitete. Als Kind erlebte er die Natur in der Wüste und im Berghäuschen der Familie in den Schweizer Alpen. Und dann studierte er an der UdK Berlin bei Olafur Eliasson, dem dänisch-isländischen Erfinder-Künstler. Von Bismarck wurde sein Meisterschüler.

Auch seine Kunst geht eine reibungsvolle Symbiose mit der Naturwissenschaft ein, setzt Schlaglichter aufs Verhältnis von Mensch und Natur, auf die Beteiligung des Homo sapiens am Klimawandel, an Dürre, Fluten, schmelzenden Eisbergen und Gletschern, an Stürmen und den dramatisch veränderten Routen der Jetstreams, dem Zustand der Wälder und Ozeane.

„Die Natur agiert und wir Menschen reagieren“, sagt von Bismarck. Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur, das ist der Umkehrschluss. Manche seiner Videos sind wie Requiems. Und dabei schimmert in allen seinen noch so provokanten Arbeiten der Romantiker durch. Die Sehnsucht und die Hoffnung, die bedrohte Natur zu bewahren.

When Platitudes Become Form. Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, bis 14. August, Mi–Mo 10–18 Uhr