Debatte

Jenseits von Geschichtsverklärung und DDR-Folklore: Das Kunsthaus Minsk

Der Kunsthistoriker Eckhart J. Gillen  zählt zu den profundesten – westlichen – Kennern der Kunst der DDR. Hier setzt er sich mit dem Spiegel-Anwurf auseinander, das neue Potsdamer Museum Minsk sei Anbiederung an die Ostalgiker.

Mattheuers Bronzeskulptur „Maskenmann / Gesicht zeigen“ steht vor dem Kunsthaus Minsk in Potsdam.
Mattheuers Bronzeskulptur „Maskenmann / Gesicht zeigen“ steht vor dem Kunsthaus Minsk in Potsdam.dpa/Patrick Pleul

Das am vergangenen Wochenende eröffnete Kunsthaus Minsk ist alles andere als die nostalgische Rekonstruktion und Umwandlung eines DDR-Folklorerestaurants in einen Ort der „Geschichtsverklärung“ und „späten Ostalgie“, wie der Spiegel behauptet. Selbst der weißrussische Diktator Lukaschenko wird bemüht, um das Projekt des neuen Kunsthauses der Hasso-Plattner-Stiftung madig zu machen, als ob „Minsk“ nicht auch für einen Aufstand der Zivilgesellschaft, vor allem der Frauen, in Belarus stehen kann.

Hier ist dagegen nach einem jahrzehntelangen Kulturkampf um den Umgang mit der preußisch-sozialistischen Vergangenheit eine Wegmarke gesetzt worden zur künftigen Versöhnung einer in Verteidiger der „DDR-Moderne“ und Freunde der barocken Rekonstruktion gespaltenen Potsdamer Stadtgesellschaft. Stellvertretend für den Streit steht zurzeit die Garnisonkirche, 1968 wie das Stadtschloss gesprengt, deren Turm noch hart mit dem nüchternen Kastenbau eines Rechenzentrums zusammenstößt, dessen Wandmosaiken von Fritz Eisel den vom Sputnik inspirierten Traum der Menschen im Sozialismus zeigen, die den Kosmos bezwingen.

Während die Kommune Potsdam mit dem brutalen Riegel des Bahnhofsgebäudes und dem Betonband des Schwimmbades blu den Panoramablick auf die Stadt verbarrikadiert hat, ließ sie das beliebte Terrassenrestaurant am Brauhausberg knapp unter der wilhelminischen Kriegsschule, dem „Kreml“ der Bezirkshauptstadt, nach der Wende bewusst verfallen. Der populäre Ort, der mit seinen Treppen und Terrassen für viele Potsdamer das sozialistische Pendant zu der aristokratischen Treppenanlage im Schlosspark Sanssouci war, geriet aber nicht in Vergessenheit.

Hasso Plattner, der für seine Kunsthalle das ehemalige Interhotel-Hochhaus, heute Mercure, abreißen lassen wollte, hat getan, was einen erfolgreichen Unternehmer ausmacht, er hat dazugelernt und erkannt, wie wichtig solche Orte für das Bewusstsein einer Stadtgesellschaft sein können, deren „Lebensleistungen wertzuschätzen“ sind. Klüger als die Stadtpolitiker, hat er verstanden, dass man „nicht auf den guten Erinnerungen herumtrampeln“ darf. Er kaufte 2019 den ruinösen Bau samt Gelände und ließ einen Neubau in den gestaffelten Kubaturen des Originals errichten, der mit seinen lichten Fensterflächen nüchtern und funktional wirkt und gründlich der folkloristischen Gemütlichkeit vergangener Tage den Kampf ansagt, ohne auf das Zitat der eleganten geschwungenen weißen Treppe und der runden Bar zu verzichten.

Plattner, auch Förderer der Rekonstruktion des Potsdamer Schlosses und des Palais Barberini, zeigt mit der Wiederherstellung des Minsk, wie eine kluge Stadtplanung aussehen könnte, die zwischen den zugezogenen, vom Spiegel als „Helikoptermäzene“ und „Extremgentrifizierer“ denunzierten Westmenschen und der eingesessenen Stadtbevölkerung vermittelt.

 Blick in den Saal mit Mattheuers Gemälden und Glasvitrine im Untergeschoss des Minsk 
Blick in den Saal mit Mattheuers Gemälden und Glasvitrine im Untergeschoss des Minsk dpa/Christoph Soeder

Auch die erste Ausstellung des Hauses vermittelt zwischen der Kunst in der DDR am Beispiel von Wolfgang Mattheuer, der nach Bernhard Heisig das größte Konvolut in der Sammlung DDR-Kunst von Plattner stellt, und einer zeitgenössischen Position westlicher Kunst, in diesem Fall des Kanadiers Stan Douglas. Hier wird von der Gründungsdirektorin Paola Malavassi nicht, wie der Spiegel behauptet, eine „umstrittene DDR-Kunst grundsaniert“, sondern die Kunst der DDR als eine legitime Tochter der Moderne und der Aufklärung und nicht als Anachronismus der Kunstgeschichte behandelt.

Noch 2009 behauptete ja eine Ausstellung im Gropius Bau der Hauptstadt, eröffnet ausgerechnet von der in der DDR sozialisierten Bundeskanzlerin, dass es in der DDR überhaupt keine Kunst geben konnte, weil freie Kunst bis 1990 nur unter Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes im Westteil des Landes möglich gewesen sein soll. Deshalb zeigten die Ausstellungsmacher von „60 Jahre – 60 Werke“ zum 60. Jahrestag der doppelten Staatsgründung nur „Westkunst“. So hieß 1981 in Köln eine Ausstellung von Lazlo Glozer und Kaspar König.

Die angeblich so staatsloyalen Künstler der Leipziger Schule Mattheuer, Heisig und Tübke zählten in den Augen der Funktionäre noch 1969 zu den „drei problematischsten Künstlern“ der DDR. Mattheuer hielt unbeirrt daran fest, in seinen Bildern gesellschaftliche Konflikte im „real existierenden Sozialismus“ auf die metaphorische Ebene biblischer und mythologischer Gleichnisse zu verschieben, um ihnen so eine Öffentlichkeit zu verschaffen. Das Publikum entwickelte bald ein spezielles Sensorium für diese malerisch verschlüsselte Gesellschaftskritik. Sein nun im Minsk hängendes Gemälde „Freundlicher Besuch im Braunkohlerevier“ von 1974 zeigt eine durch die Industrialisierung gezeichnete Landschaft als Schauplatz für die Veranschaulichung der trotz Sozialismus fortdauernden Entfremdung der Arbeiterklasse in der DDR.

Die Architektur der einstigen DDR-Moderne hat ihre Reize: Die Treppe spiegelt sich.
Die Architektur der einstigen DDR-Moderne hat ihre Reize: Die Treppe spiegelt sich.dpa/Patrick Pleul

Wir können in diesem Bild eine kritische Analyse der Verhältnisse zwischen Parteiführung und Arbeiterklasse sehen: Arbeiter durcheilen nach Feierabend die zerstörte Natur des Braunkohletagebaus, in der sich eine einsame Birke und etwas Strauchwerk kaum halten können. Von den Arbeitern ignoriert, kreuzen phantomhaft schwebende Besucher ihren Weg, die schattenlos in maskenhaft bemalten quadratischen Kisten ihre Köpfe versteckt haben. Ihr Anführer hält in der einen Hand gelb-rote Tulpen – eine Anspielung auf Mattheuers „Die Ausgezeichnete“ von 1974 –, in der anderen eine Papierrolle für seine Rede.

Bloßgestellt werden hier die stets Optimismus zur Schau tragenden Parteifunktionäre, deren Blick für die Realität durch die nach allen Seiten Frohsinn verbreitende Gesichtsmaske verstellt ist. Sie haben keinen Boden unter den Füßen und können mit ihrem Gehäuse vor dem Gesicht das totale Desinteresse der Arbeiter an ihrem Besuch nicht bemerken. Sie marschieren unverdrossen weiter, obwohl sie doch offensichtlich zu spät gekommen sind. Der Arbeiter auf der vordersten Bildebene dreht sich um und sieht den Betrachter fragend an. An Stelle eines Leitbildes „sozialistischer Persönlichkeitsentwicklung“ malt Mattheuer den fragenden, vieldeutigen Blick des Vertreters der Arbeiterklasse. Die Sorge, der Betrachter des Bildes könnte die falschen Schlüsse ziehen, war offensichtlich groß. Das Gemälde blieb im Besitz des Künstlers und war bis 1989 auf keiner überregionalen Ausstellung zu sehen.

Im Angesicht dieser gelungenen Gegenüberstellung der Potsdamer Schrebergärten von Douglas mit Mattheuers Landschaften und Gärten, die für ihn eine Welt bedeuten können, stellt sich nur die Frage, warum die Gemälde von Mattheuer im fensterlosen ehemaligen Küchentrakt hängen, während die lichtempfindlichen Fotos von Douglas im lichtdurchfluteten Obergeschoss gezeigt werden. Sollte sich da möglicherweise hinterrücks doch noch eine (Ab-)Wertung der Malerei aus der DDR gegenüber der ‚fortschrittlichen‘ westlichen Medienkunst eingeschlichen haben?

Unser Autor: Dr. Eckhart J. Gillen, 1947 geboren in Karlsruhe, lebt in Berlin. 1997 fand seine Schau „Deutschlandbilder-Kunst aus einem geteilten Land“ im Gropiusbau das große Echo der Kunstwelt. Es folgten „Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990“, „Wahnzimmer Deutschland“, „Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik“, ,„Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945–1989“ und "Kunst in Europa 1945–1968“. Themen waren das Trauma des Zweiten Weltkrieges, der Eisernen Vorhang und der Traum von Europa. Im Mai 2022 wurde Gillen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.