Ein paar Stunden vor mir traf die Hiobsbotschaft in Bitterfeld ein: In der Nacht zum 20. Juni ist auf der Autobahn bei Vockerode ein Mercedes von der Straße abgekommen und hat sich viele Male überschlagen. Bei dem Fahrer handelte es sich um den engagierten Bitterfelder Unternehmer Matthias Goßler. Er ist in dieser Nacht mit 49 Jahren gestorben.
„Mit ihm verliert die Stadt Bitterfeld-Wolfen einen Visionär, Partner und Freund“, heißt es in dem Nachruf der Stadtverwaltung. Als Event- und Projektmanager habe er die Region mit seinen Ideen, seinem Mut und seiner Freude am Leben geprägt. Das sind keine Floskeln. Ein konkretes Beispiel für diesen, die Region prägenden Mut ist, dass Goßler den Bitterfelder Kulturpalast gekauft hat, kurz und liebevoll KuPa genannt, ein leerstehendes stadtgeschichtliches Symbol, eine steingewordene, in die Gegenwart geplumpste Utopie, die der Zahn der Zeit bisher noch weitgehend verschmäht hat.

Der Kulturpalast soll das Zentrum für das Festival „OSTEN“ sein, das nach vierjähriger Vorbereitung vom 1. bis zum 17. Juli unter der Leitung von Aljoscha Begrich, Ludwig Haugk und Christine Leyerle, dreier ehemaliger künstlerischer Mitarbeiter aus dem Berliner Gorki-Theater, in Bitterfeld und Umgebung stattfindet. Ziemliche Ansage, dieser Titel, was gibt es denn in dieser Himmelsrichtung zu feiern? Um das herauszufinden, hatte ich mich auf die kleine Reise gemacht und unterwegs von dem Unfall erfahren. Als ich am Kulturpalast ankomme, sitzen die drei noch irgendwo mit der Witwe Andrea Goßler zusammen. Der Schock hat sich noch nicht ganz ausgebreitet, da muss die Trauer übersprungen werden, um gleich an das Vermächtnis zu denken. Das Festival soll stattfinden. So hätte es ihr Mann gewollt, sagt Andrea Goßler. Auf den Stufen vor dem Eingang des neoklassizistischen Baus aus den Fünfzigern steht eine mit Kreide beschriftete Schiefertafel neben einer Kerze: „In Gedenken an einen Visionär“. Aus den Fugen der Stufen bohrt sich eine Nachtkerze und anderes Grünzeug. Die Türen sind verschlossen.
5000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Chemiekombinat, der Filmfabrik, den umliegenden Tagebauen und Kraftwerken leisteten 300.000 Arbeitsstunden nach Feierabend, um 1952 das Gebäude zu errichten und später in Beschlag zu nehmen. 60 Laienkunstzirkel waren in seinen 240 Räumen beheimatet. Zweitausend Mitglieder übten sich kostenlos in Theaterspiel, Volkstanz, Malerei, Fotografie oder Handarbeiten.

Dass die Modenschauen, Tanz- und Theaterdarbietungen der Laienspielgruppen im ausgebuchten 1200-Plätze-Haus abgehalten werden konnten, hing mit der straffen Organisation des kulturellen Lebens in den Betrieben zusammen. Die Brigaden verpflichteten sich zu solcherlei Tätigkeiten, die nicht ohne Grund als gesellschaftlich nützlich gelten dürfen, und mussten sie dann wohl oder übel auch erfüllen. Ein Besuch im Kulturpalast krönte den Tag des Chemiearbeiters, gebraucht wurde der Saal auch für die Jugendweihefeiern, die vom Arbeitersymphonieorchester musikalisch umrahmt wurden. Hier fanden 1959 und 1964 die berühmten Konferenzen statt, bei denen der Bitterfelder Weg zu einer „volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur“ beschritten wurde. 1968 wurde der Saal für eine Trauerfeier nach einer der größten Industrieunfälle in der DDR gebraucht: In der PVC-Fertigung hatte es eine Explosion gegeben, bei der 42 Menschen starben. Glamouröse Höhepunkte waren Aufzeichnungen von Fernsehshows und der Auftritt des West-Stars Udo Jürgens, der 1965, also viele Jahre vor dem anderen Udo, ein Konzert im sozialistischen Ausland gab und sich von der Gage gleich einen dieser tollen Blüthner-Flügel aus Leipzig kaufte.

Heute steht das Gebäude in einem locker bebauten Gewerbegebiet auf einer struppigen Wiese. Warm scheint die Sonne über Bitterfeld, die Vegetation auf dem ehemaligen Werksgelände, wo so viele Anlagen abgerissen wurden, erobert sich den Lebensraum zurück. Grillen zirpen um die Wette mit den Transformatoren der Solarfarmen, die sie hier auf den teilweise verseuchten Böden der Industriebrachen errichtet haben. Es gibt Fabriken, die auf dem Gelände arbeiten, Ableger großer Chemiekonzerne, die hier von den niedrigen Löhnen und Grundstückspreisen profitieren und ihre Steuern an den Stammsitzen zumeist im Westen zahlen. Aber immerhin, Arbeit gibt es.
Bitterfeld sah ich bis zu diesem Tag nur einmal in meinem Leben, bei einem Wandertag mit Betriebsbesichtigung. Das war in den 80ern, ich war ungefähr 14 Jahre alt. Mein inneres Auge ist noch immer gereizt von dem Blick durch ein verschmiertes Reichsbahnfenster in unendliche Rostlandschaften, in denen der gelbe Nebel waberte. Heute dauert die Reise mit dem Neun-Euro-Tickt zwei Stunden, der ICE ist deutlich schneller, aber teurer. Ich scheine in einem Naherholungsgebiet gelandet zu sein. Die Stadt ist schön gelegen, am Muldestausee und am Großen Goitzschesee, der über einen Sandstrand verfügt und einen schönen Blick über die hügelige Landschaft erlaubt. Der See ist ein ehemaliger Braunkohletagebau, und die Hügel bestehen zu Teilen wohl noch immer aus den Deponien, auf denen der Sondermüll der hiesigen Chemiefabriken und solcher, den die DDR der BRD gegen Devisen abnahm, verkippt wurde. Es gibt einen Bademeister um die siebzig, der sich sein Leben lang kaum vom Fleck bewegt hat und der dennoch in verschiedenen Landschaften lebte: Als Kind ist er durch den Wald gestromert, der dann wegen der Braunkohle gerodet wurde. Als Mann bewegte er sich als Bergarbeiter über die Mondlandschaften des Tagebaus. Und als Rentner passt er nun am See auf die Schwimmer auf.

Es ist eine von ungefähr tausend Geschichten, die mir einer der Festivalleiter, Aljoscha Begrich, erzählt, nachdem er mich abholt, um mich ein bisschen herumzuführen. Am Haus wird gearbeitet. Rote Holzrampen werden montiert. Benjamin Förster Baldenius von dem Architekturkollektiv Raumlabor Berlin hat sich von den Aufbaubildern aus den Fünfzigern inspirieren lassen. Die Gäste werden mit Schubkarren durchs Seitenfenster auf den Parkour durch den Palast geschickt. Teilweise sind die Rampen so steil, dass man sich Verbündete suchen muss, um die Installationen und Performances, die in den gut zwei Wochen gezeigt werden, zu erreichen – natürlich ist auch an barrierefreie Lösungen gedacht.
Der Weg führt durch eine Garderobe über ochsenblutfarbenes Linoleum, es riecht nach Desinfektionsmittel, es wird wohl dieses legendäre Wofasept sein, das bis heute in Bitterfeld angerührt und abgefüllt wird. Die Funktionsmöbel und Elektroarmaturen erinnern an die Schulzeit in der DDR. Die repräsentativen Räumlichkeiten sind mit Qualitätsmobiliar versehen. Design-Lampen hängen an Decken und Wänden, die Vertäfelungen der Foyers und Erfrischungsräume sind edel und lassen an gepflegte Tanzveranstaltungen mit Gastronomie denken. Die Bühne unter dem Zugturm ist gigantisch, es stehen noch Möbel herum, die von Bitterfeldern für Flüchtlinge aus der Ukraine gespendet wurden. Matthias Goßler hat sich darum gekümmert, wie auch um die leerstehenden Wohnungen, die er von der Stadt zur Verfügung gestellt bekommen hat – und die nun möbliert sind.
Hier werden Performances stattfinden, das Publikum soll auf der Hinterbühne sitzen, der eiserne Vorhang bleibt zu. Der Zuschauersaal ist einfach zu groß, 1200 Plätze sind im Parkett und auf einem Rang verteilt. Es ist toll, den an allen Ecken abfliegenden Inspirationen von Begrich zu folgen, dessen Festival von Bitterfeld aus gedacht ist und der hier so viele Verbündete getroffen und aktiviert hat, die wiederum andere aktivierten, die ihre Erinnerungen einbringen. Aber immer landen wir schwer und trocken bei dem Gedanken an Matthias Goßler, der vor den Dimensionen offenbar keine Angst hatte. Er selbst stand hier als Jugendweihling auf der Bühne dieses Palastes, den heute keiner mehr zu brauchen scheint. Doch Goßler wollte das Gestühl entfernen, um den Saal für vielfältige Events nutzbar zu machen. Gedacht hat er dabei wohl vor allem an lukrative Messen und Konferenzen aus der Wirtschaft, deren Veranstalter keine Lust haben, die überteuerten Saalmieten in Leipzig oder Berlin zu bezahlen. Goßler war umtriebig und gut vernetzt. Was wird jetzt aus all diesen Projekten?

Wir landen unter anderem auch in der ehemaligen Kellerbar, wo sich dem Vernehmen nach wichtige Wendepunkte und sogar Gründungsmomente von Bitterfelder Familiengeschichten abgespielt haben sollen. Die Holzvertäfelung aus den Fünfzigern macht einen gemütlichen Ratskeller-Eindruck, sehr geräumig, man kann sich vorstellen, dass hier was los war. Unweit ist der alte Busbahnhof, wo die Schichtbusse die Werktätigen nach ihrem Feierabendbier abholten. Aber es riecht penetrant nach Schimmel. Begrich erzählt, dass das Grundwasser unter dem Kulturpalast wohl noch für Jahrhunderte verseucht sein wird. Den Keller trocken zu halten, hat dem Eigentümer allein eine sechsstellige Summe Betriebskosten jährlich verursacht. Jetzt sollte der Kulturpalast mit Bundesmitteln saniert werden, eine Betonwanne unterhalb des Palasts wird wohl zu teuer, stattdessen will man den Keller mit Beton verfüllen.
Dass das „OSTEN“-Festival in Bitterfeld gelandet ist, ist eher Zufall, erzählt Aljoscha Begrich, der selbst aus Sachsen-Anhalt stammt und nach vielen international ausgreifenden Arbeiten wieder ein bisschen Bodenhaftung in den strukturschwachen Gegenden der ehemaligen DDR gesucht hat. Umso frappierender, wie sich das Konzept des Festivals nun wie von selbst formuliert, wie sehr zum Beispiel die Suche nach Begegnungen außerhalb der jeweiligen Filterblasen ihre Entsprechung in dem sprichwörtlich gewordenen und vielfach belächelten Bitterfelder Weg findet: Die Arbeiter und Bauern sollten sich zur Kultur emporschwingen und die Kulturschaffenden in Kontakt mit der Lebenswirklichkeit der herrschenden Klasse treten.
Das Festival will kein Event-Programm aus der hippen Hauptstadt auf Bitterfeld herabtropfen lassen und dann wieder verschwinden. Es geht ihnen um Verbindungen, die Liste der regionalen Kooperationspartner und beteiligten Institutionen ist unendlich lang. Studenten der Kunstschulen in Burg und Leipzig werden ebenso einbezogen wie die Berufsschüler aus der direkten Nachbarschaft. Diese Verbindungen könnten das kulturelle Selbstbewusstsein und die gute Laune stärken, Empowerment ist das Modewort dafür. Sie sind das, was bleiben kann, wenn die Crew wieder abgereist ist.
Das Festival selbst ist ein organisatorisches, prozesshaftes Kunstwerk. Nicht die einzelnen Namen und Ideen sind entscheidend, sondern ihr Zusammenwirken. Man soll sich auch nicht zu sehr von dem Programm leiten lassen, sondern einfach kommen und Zeit hier verbringen. Die einzelnen Projekte sind in der Mehrheit sehr konkret und ortsbezogen und gewinnen gerade dadurch umgehend an Poesie und symbolischer Kraft. Kein Wunder, hier hat sich die Industriegeschichte der Weimarer Republik, der Nazi-Zeit, der DDR und der Nachwendezeit in dicken Kapiteln abgelagert. Die Biografien der Leute, die hier leben und für die sich lange keiner interessiert hat, sind eng verwoben mit den großen historischen und gesellschaftlichen Erzählungen, von denen es heißt, dass sie an ihr Ende gekommen seien. Überall findet man Zeugnisse von finsteren Verbrechen gegen Menschen und Umwelt und von zwar hellen, aber verrutschten und schnell aufgegebenen Beglückungsversuchen. Dem gehen die Künstler nach, sie destillieren den „Schweiß der Erde“ aus Bitterfelder Bodenproben, sie wollen als „urbane Dermatologen“ die Haut der Landschaft untersuchen, sie betreiben heimatkundliche und archivarische Forschungen, suchen und teilen in Audio-Walks immer wieder das Gespräch mit Zeitzeugen.

Allein die längst abgewickelte traditionsreiche Filmfabrik ist ein Quell der Metaphern, die sich immer weiter entfalten, je mehr Details man erfährt. Zum Beispiel von den Knochen der heiligen Rinder aus Indien, die, in der dortigen Sonne gebleicht, den besten Rohstoff für die Filmgelatine abgeben. Oder von den Frauen, die teilweise unter Zwang in den finsteren Laboren mit dem lichtempfindlichen Material arbeiten mussten. Oder von dem Emulsionär der Filmfabrik, der in dem „ORWO“-Dokfilm von 1995 von seiner fast mythischen Suche nach einem Filmmaterial spricht, das die Farben der Wirklichkeit möglichst naturgetreu abbildet. „Die Konkurrenz“, sagt der Geheimnisträger mit Blick auf den Westen, „ist einen anderen Weg gegangen. Die möchte, dass zu jeder Lebenslage die Leute aussehen, als würden sie aus dem Urlaub kommen. Die Natur soll immer schön dargestellt werden, egal ob sie untergeht oder blüht.“ Dass Bitterfeld während des Festivals ein bisschen leuchtet, das darf schon sein.
