Zahra Amir Ebrahimi, die sich Zar nennt, war einer der größten Film- und TV-Stars in Iran – bis sie vor 15 Jahren aufgrund eines intimen Videos in ihrer Heimat zur Persona non grata degradiert wurde. 99 Peitschenhiebe und zehn Jahre Berufsverbot waren die Strafen für den gegen ihren Willen geleakten Film – die Schauspielerin floh ins Exil nach Frankreich. Nun spielt die 42-Jährige in Ali Abbasis True-Crime-Thriller „Holy Spider“ zum ersten Mal wieder eine Hauptrolle und wurde dafür in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
Zar, seit Mitte September kocht es in Iran. Ihr Film „Holy Spider“ wirkt nun fast prophetisch: Er thematisiert die Misogynie, den Fanatismus und die Wut der Unterdrückten. Ist „Holy Spider“ ein Film über einen Serienmörder oder über eine Serienmörder-Gesellschaft?
Ich konnte persönliche Erfahrungen miteinfließen lassen, kenne die Schwierigkeiten, mit denen man im Alltag als Frau in Iran konfrontiert wird: im Beruf schikaniert und belästigt zu werden, Schwierigkeiten mit Ämtern und den Autoritäten zu haben. Ich habe erlebt, wie Polizisten dir zusetzen, damit du kooperierst und klein beigibst. Ich weiß, wie sich das anfühlt.
Sie sind in Iran geboren, drehten für Kiarostami, waren die Heldin des TV-Serienhits „Nargess“, ein Superstar.
Einiges von meiner eigenen Lebensgeschichte ist in „Holy Spider“ eingeflossen: die Erfahrung einer erwachsenen Frau aus ihrem Leben in Iran, ihre Wut. Der Kampf der Journalistin, die ich spiele, beginnt, als sie auf ihre Recherchereise geht und an der Hotelrezeption eincheckt bis zu dem Moment, in dem sie den Mörder stellt. Ich hatte die Figur mit all ihren Emotionen in mir. Weil ich wusste, wie es sich anfühlt, schikaniert zu werden.
Sie leben im Exil in Paris. Was brachte Sie dazu, 2008 Ihre Heimat zu verlassen?
Ich war gezwungen zu fliehen. Ein sehr privates Video von mir und meinem damaligen Freund wurde auf der Straße als DVD verscherbelt. Über Nacht hatte es jeder im Land gesehen. Jeder. Ich war so jung, 25 erst, und von einem Tag auf den anderen waren mein Leben und meine Karriere zerstört. Ich bekam Probleme mit den Machthabern und der Gesellschaft und wusste irgendwann: Ich kann nicht mehr. Ich muss weg. Ich musste raus.
Ein „privates“ Video?
Die Regierung nannte es ein Sex-Tape. Zuerst sah es so aus, als hätte mein damaliger Freund es in Umlauf gebracht. Dann stellte sich heraus, dass es wohl jemand anderes war, ein gemeinsamer Freund, der mittlerweile gestorben ist.
Wie haben Sie diesen Skandal damals erlebt?
Ich wurde ein Jahr lang immer und immer wieder verhört, auch meine Freunde und Kollegen. Einige von ihnen landeten sogar im Gefängnis, zur Einschüchterung. Sie wurden gefragt, ob sie mich geküsst hätten oder mir anders nähergekommen waren. Die Sittenwächter erfanden immer neue Anschuldigungen und eröffneten dann neue Verfahren gegen mich. Es war horrend. Die TV-Serie wurde sofort abgesetzt. Man wollte ein Exempel an mir statuieren und hat systematisch so lange Rufmord betrieben, bis ich geächtet wurde. 2008 floh ich dann.
Die unterdrückte Sexualität gehört zur Kultur der islamischen Schia und die Islamische Republik hat diese Politik geschürt: Mullahs verbinden schon das Händeschütteln oder das gemeinsame Benutzen eines Lifts mit Gedanken an Sex oder Vergewaltigung.
Meine Demütigungen gingen nicht nur von der Regierung aus, sondern von der gesamten Gesellschaft. Das Schlimmste war, als ich sah, wie Kollegen in einer Runde zusammensaßen und sich dieses Video ansahen. Und es waren nicht nur die Männer. Nach sieben Jahren habe ich übrigens die ganze Story aufgeschrieben. Vielleicht inszeniere ich sie ja mal.
Wie haben Sie diese Zeit überstanden?
Das alles hat mich zu der Person gemacht, die ich jetzt bin. Man hat mich zu Fall gebracht – aber ich stand wieder auf. Und ich habe nie meine Liebe zum Film verloren. Seitdem ich wusste, dass das Video in Umlauf geraten ist, redete ich mir ein: Was hier passiert, ist alles nur ein Film. Dein Film. Eine große Rolle. Du musst sie so gut spielen, wie du kannst, selbst wenn es schwierig wird. Dieses Gedankenspiel war mein Rettungsring, es half mir beim Überleben.
Gingen Sie damals davon aus, dass Ihre Karriere vorbei ist?
Ja. Es zogen zwar viele persische Regisseure nach Paris – aber keiner dachte daran, mir eine Rolle anzubieten. Wenn ich mal fragte, hörte ich nur: Du willst doch nicht mehr spielen, oder? Diese Frage brach mir jedes Mal das Herz.
Dann kam „Holy Spider“. Ursprünglich waren Sie als Castingdirektorin für den Film angeheuert, übernahmen dann aber selbst die Hauptrolle. Wie kam es dazu?
Das war ein Wunder! Fast vier Jahre habe ich mit Regisseur Ali Abbasi diesen Film vorbereitet und knapp 400 Castings durchgeführt. Die Journalistin zu finden war natürlich am schwierigsten. Schließlich fanden wir eine passende persische Darstellerin, aber 14 Tage vor Drehbeginn sprang sie ab. Ich war verzweifelt – wir hatten so viel erreicht, jede Rolle war perfekt besetzt, und trotzdem war das Projekt nun gefährdet. Da hat mich Abbasi zum ersten Mal zornig gesehen. Und spontan castete er mich. Um Mitternacht klingelte er einen Kollegen in Jordanien aus dem Bett, und nach 24 Stunden war alles entschieden. Wir disponierten um, nahmen ein paar Änderungen am Drehbuch vor – und plötzlich war alles schlüssig. Auch für mich persönlich.

Wie war es, in Cannes plötzlich so viel Applaus und dann auch noch den Preis als beste Schauspielerin zu bekommen?
Überwältigend. Ich habe drei Stunden lang geweint. Iraner, Franzosen, die Weltpresse – alle sagten, wie sehr der Film sie berührte. Einen Film wie diesen gab es noch nie im iranischen Kino, er schockiert und zeichnet ein ganz anderes Bild, als man es bisher aus Filmen kennt.
Was macht diesen Thriller so einzigartig?
Zum einen, dass die Story wahr ist. Ich selbst hatte schon von dem Serienkiller, der Prostituierte in der Heiligen Stadt Mashhad ermordete, gehört. „Holy Spider“ ist aber kein diplomatischer Diaspora-Film, sondern ein Film Noir voller Hass, Sex, Blut – alles, was in Iran unmöglich gezeigt werden kann. Es ist dem verrückten Ali Abbasi zu verdanken, dass wir dieses Risiko eingehen konnten.
Was bedeutete der Sieg in Cannes für Sie ganz persönlich?
Beruflich war das der größte Erfolg meines Lebens. Ich spielte ja nicht nur die Hauptrolle, sondern war auch Castingdirektorin. Für diesen Film über den roten Teppich zu laufen, war ein Traum. Das ist nicht nur ein roter Teppich, nein, Cannes ist der rote Teppich. Größer geht es nicht. Ich schwebte wie auf einem fliegenden Teppich, fühlte mich befreit! Cannes war mein Befreiungsschlag. Als ob es so etwas wie Gerechtigkeit gäbe.
Wie verfolgen Sie die Freiheitsbewegung in Iran heute, über Ihre Verwandten?
Meist über Social Media. Ich habe wenig Kontakt zu Verwandten. Das gehört leider auch zu meiner neuen Realität. Es ist nicht gut für sie, Kontakt zu mir zu haben. Manchmal ruft meine Mutter durch, um zu erfahren, wie es mir geht. Ich höre, dass die Leute fast jede Nacht rausgehen, um zu protestieren. Freunde erzählen, dass sie sich verabschieden, als gingen sie für immer. Sie ziehen ohne Handy los, sodass man Stunden bangt, ob sie zurückkommen. Eine sehr enge Freundin von mir wurde gerade verhaftet. Sie war nicht mal auf einer Demo, sondern wurde zu Hause abgeführt. Keiner weiß etwas über ihren Verbleib. Ich kann nicht mal ihren Mann kontaktieren, weil er sicher abgehört wird.
Ihr Anruf als Persona non grata würde das Ganze noch schlimmer machen?
Definitiv. Vorhin habe ich ihr Foto gepostet und geschrieben, dass sie verschleppt wurde. Gleich danach zweifelte ich, ob das richtig war. Soll ich den Mund aufmachen, oder ist es sicherer für sie, wen ich so tue, als würde ich sie nicht kennen? Ich schlafe vor Sorge kaum noch.
Wieviel Druck lastet auf Ihnen?
Die wenigsten machen sich ein Bild von der Brutalität des Regimes. Schon dieses Interview kann ein Problem aufwerfen. Ich weiß nie, ob morgen daraus meiner Mutter ein Strick gedreht wird, ob sie zum Verhör abgeholt wird, weil ich offen gesagt habe, dass meine Freundin verhaftet wurde. Das ist ein riesiges Dilemma für mich. Für alle. Das gesamte iranische Volk hat dieses Problem. Doch die neue Generation macht den Mund auf. Ich erhalte so viele Nachrichten, in denen ich gebeten werde, über sie und die Bewegung zu sprechen.
Hat diese Freiheitsbewegung die Chance, das Mullah-Regime zu stürzen?
Für mich ist diese Bewegung jetzt schon erfolgreich, weil die Männer dieses Mal hinter den Frauen stehen. Das ist die eigentliche Revolution! Ich glaube, dass eine Mauer durchbrochen ist. Vielleicht ist sie noch nicht ganz gefallen, vielleicht steht noch die Hälfte. Gleichzeitig aber habe ich Angst – Angst vor noch mehr Blutvergießen.
Iran schreibt derzeit feministische Weltgeschichte. Die Frauen des Landes gelten als die Heldinnen des Jahres 2022. Können Sie den Mut dieser Löwenfrauen, dieser „shir zan“ erklären?
Ich glaube, der immense Druck auf sie wurde irgendwann einfach zu viel. Sie konnten diese Situation der Unterdrückung nicht länger ertragen. Die letzten Monate in Iran haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass jeder Mensch eine Grenze hat und irgendwann bereit ist, sein Leben zu opfern, um seine Würde und Identität zurückzuerlangen.
„Holy Spider“ wird für Dänemark im Januar ins Oscarrennen gehen. Ist die Zukunft jetzt etwas, auf das auch Sie sich freuen?
Am Tag, als wir erfuhren, dass „Holy Spider“ ins Oscarrennen geht, begannen die Unruhen in Iran. Ich freue mich, klar, wir haben so viele Jahre daran gearbeitet, wir müssen glücklich sein. Der Film ist zudem ein perfekter Aufhänger, damit wir über die Frauen in Iran und ihre Bewegung sprechen. Aber tief im Herzen bin ich trotzdem unglücklich. Ich frage mich: Was tust du hier? Du müsstest jetzt dort auf der Straße mitkämpfen! Dann rufe ich mich zur Ordnung: Du hast eine Aufgabe. Nutze jetzt deine Stimme hier. Löchre internationale Gemeinschaften mit deinen Fragen, trage das Thema in die Gesellschaft! Dann geht es wieder.

2006 tauchte ein Sexvideo auf, das Zar mit ihrem damaligen Freund zeigt. Die Aufnahmen lösten einen Skandal aus, die TV-Serie wurde abgesetzt und die Schauspielerin mit einem zehnjährigen Auftrittsverbot in Film und TV belegt. 2008 emigrierte sie deshalb nach Frankreich, wo sie als Cutterin, Produzentin und Casting-Agentin arbeitete.
Der Thriller „Holy Spider“ markierte einen Wendepunkt in Amir Ebrahimis Karriere. Für ihre Rolle im Film des iranischstämmigen Regisseurs Ali Abbasi, der auf einer wahren Mordserie an Prostituierten in der heiligen Stadt Mashhad 2001 beruht, wurde sie in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet.





