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Relotius-Doku „Erfundene Wahrheit“: Hat der Spiegel unzureichend aufgeklärt?

Ein neuer Dokumentarfilm erzählt den bekannten Spiegel-Skandal mit neuen Details. Gegen das Nachrichtenmagazin erhebt der Film schwere Vorwürfe. Eine Kritk.

„Das ist eigentlich Literatur“, sagte der Journalist Franz Fischlin, als er Claas Relotius 2014 mit dem CNN Journalist Award als Journalisten des Jahres auszeichnete. Er hatte den richtigen Riecher. 
„Das ist eigentlich Literatur“, sagte der Journalist Franz Fischlin, als er Claas Relotius 2014 mit dem CNN Journalist Award als Journalisten des Jahres auszeichnete. Er hatte den richtigen Riecher. Kinescope

Der Ex-Spiegel-Mitarbeiter und Meisterfälscher Claas Relotius mag mittlerweile eine neue Karriere als Werbetexter begonnen haben, doch so schnell kommt er nicht vom Haken.„Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre“ heißt ein neuer Dokumentarfilm über seine Machenschaften in der deutschen Presselandschaft, die 2018 bekanntlich einen beispiellosen Skandal mit internationaler Tragweite markierten.

2019 beschrieb der freie Spiegel-Mitarbeiter Juan Moreno in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge: Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ bereits ausführlich, wie er seinen damaligen Kollegen als Betrüger enttarnt hatte. Im vergangenen Jahr fiktionalisierte Michael Bully Herbig die Geschichte zu einer kurzweiligen Schmunzelorgie fürs Kino.

Gibt es noch Aufklärungsbedarf? Der Dokumentarfilm des Regisseurs Daniel Sager legt es nahe und immer wieder den Finger in die Wunden einer Branche, die in der Krise, im Umbruch oder beides ist.

„Für einen gesellschaftlichen Diskurs und um freie Entscheidungen treffen zu können, brauchen wir unverfälschte Informationen. Das ist die Aufgabe des unabhängigen Journalismus. Wenn dessen Glaubwürdigkeit beschädigt wird, ist nichts weniger als die Demokratie in Gefahr. Der Relotius-Skandal hat uns vor Augen geführt, wie schnell das passieren kann“, sagt der Regisseur. Und hat damit recht.

72 Prozent der Jugendlichen misstrauen Journalisten

Laut des Digital News Report, für den das britische Reuters Institute jedes Jahr knapp 100.000 Menschen nach ihrem Nachrichtenkonsum befragt, hatten 2022 nur noch die Hälfte der Deutschen Vertrauen in die Medien. Während im Jahr 2015 noch 74 Prozent der Befragten angaben, sich „sehr“ oder „extrem“ für Nachrichten zu interessieren, sind es aktuell laut des Berichts nur noch 57 Prozent.

Dass sich das in absehbarer Zeit noch mal ändert, steht nicht zu erwarten: Fast 76 Prozent der Jugendlichen bis 16 Jahren misstrauen den Zeitungen und knapp 72 Prozent den Journalisten generell, zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Bielefeld von 2022.

Dass für diese Entwicklung Claas Relotius verantwortlich ist, wäre freilich eine Erzählung, die in ihrer Simplizität zu den Geschichten des Fälschers selbst passen würde. Unstreitbar ist allerdings, dass der Fall signifikante Schwächen in einem System offengelegt hat, die weit über die Ericusspitze hinausragen. Der Dokumentarfilm macht erneut darauf aufmerksam. Dass sich einiges wiederholt, lässt sich dabei kaum vermeiden – selbst wer den Fall bisher kaum verfolgt hat, wird abgeholt.

20 Spiegel-Redakteure lehnen Interview-Anfrage ab

Doch auch vorinformierte Zuschauer erfahren noch Neues, kriegen beispielsweise zum ersten Mal Szenen aus dem Video zu sehen, mit dem Juan Moreno die Chefs beim Spiegel endgültig von seinem Verdacht überzeugen wollte. Darin legt er einem selbsternannten Grenzschützer in Arizona einen Text von Relotius vor, „Jaegers Grenze“ mit ihm als schießwütigem Protagonisten. Nach der Lektüre lacht dieser laut, schwört, niemals mit Relotius gesprochen zu haben und fordert die Spiegel-Chefs zur Kündigung auf. Diese entschieden sich stattdessen, weiterhin den Ausflüchten des Fälschers zu glauben.

Steffen Klusmann, der kurz nach der Enthüllung Chefredakteur des Spiegel wurde, steht Rede und Antwort, auch eine Dokumentarin nimmt Stellung. Bemerkenswert ist allerdings eine Liste, die vor dem Abspann eingeblendet wird. Darauf stehen 20 ehemalige und aktuelle Redakteure des Spiegel, die eine Interviewanfrage für den Film ablehnten.

Gegen manche von ihnen werden im Film Vorwürfe erhoben, zum Beispiel gegen einen Mitarbeiter von Spiegel TV, dem ein kurdischer Kameramann schon 2017 sehr deutlich zu verstehen gab, dass Relotius nie mit einem minderjährigen Häftling im Nordirak gesprochen hatte, dessen Bruder sich bei einem Attentat in die Luft gesprengt hatte. 2018 bekam Relotius dafür den Peter Scholl-Latour Preis.

Tim Foley spielt im Artikel „Jaegers Grenze“ von Claas Relotius unter dem Spitznamen Nailer eine zentrale Rolle. Tatsächlich hat der Journalist ihn nie getroffen. 
Tim Foley spielt im Artikel „Jaegers Grenze“ von Claas Relotius unter dem Spitznamen Nailer eine zentrale Rolle. Tatsächlich hat der Journalist ihn nie getroffen. Kinescope

Als „weit entfernt von einem normalen Vorgehen“ beschreibt am Ende ein Compliance-Experte die Aufarbeitung des Skandals beim Spiegel durch nur drei Journalisten mit Interessenkonflikt. Das Ergebnis, Claas Relotius (der übrigens kündigen durfte und vom Spiegel nie verklagt wurde) sei ein Einzeltäter gewesen, neben dem es im Haus weder andere Betrüger noch Menschen gegeben habe, die ihn absichtlich deckten, dürfte unter diesen Bedingungen nicht überraschen.

Wer das glaubt über ein Umfeld, wo bei Erfolg Ruhm und Geld winken, lebt entweder unter einem Stein oder in einem geheimen Paradies. Daran kann nicht oft genug erinnert werden. Und unterhaltsam ist die Geschichte natürlich sowieso. Als hätte sie sich jemand ausgedacht.

Erfundene Wahrheit. Dokumentarfilm, 93 Minuten, Sky/WOW