„Einer der ersten Schritte, um private Trauer öffentlich zu machen, ist das Ritual des Gedenkens“, sagt der Künstler und Autor David Wojnarowicz, ein enger Vertrauter Nan Goldins, 1989 in einer Rede, auf dem Höhepunkt der Aids-Krise. „Ich habe in den letzten fünf Jahren an einer Reihe Gedenkfeiern teilgenommen, und bei der letzten verspürte ich plötzlich so etwas wie Wut. Was mich so wütend machte, war die Erkenntnis, dass die Trauerfeier außerhalb des Raumes, wo sie stattfand, keinen Widerhall fand.“
Einen Tag nach dieser Rede, so dokumentiert es Laura Poitras in „All the Beauty and the Bloodshed“, eröffnete eine von Goldin kuratierte Ausstellung („Witnesses. Against Our Vanishing“) inklusive provokantem Begleittext Wojnarowiczs. Ziel war es, das Schweigen der Mehrheitsgesellschaft über Aids zu brechen, jene Epidemie, die damals Abertausende Schwule und Queers das Leben kostete. Wojnarowicz starb, wie viele enge Befreundete Goldins, wenig später selbst an HIV/Aids.
Indem der Film diesen und weitere biografische Hintergründe Goldins transparent macht, wirkt sein eigentliches Thema – die von Goldin losgetretene Kampagne P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now), durch die die Billionärs- und Kunstmäzenen-Familie Sackler für die Opioid-Epidemie zur Verantwortung gezogen werden soll – plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Hierin besteht auch die größte Stärke dieses Films: zu zeigen, dass Goldins P.A.I.N.-Aktivismus, der in den letzten Jahren immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hat, nicht nur eine quasi logische Folge ihrer Vorgeschichte mit Heroin ist. Die Künstlerin war in den späten 80er-Jahren selbst abhängig und wurde es 2014, als man ihr in Berlin für eine Handgelenk-OP das Opioid Oxycontin verschrieb, augenblicklich wieder. Sondern, dass ihr Aktivismus sozusagen als Glied einer Kette ihres lebenslangen Kampfes gegen die Scham zu verstehen ist. Ein Kampf gegen das Verschweigen unliebsamer Tatsachen und machterhaltender Tabus. Ein Kampf, der – das zeigt „All the Beauty and the Bloodshed“ wie Goldins Kunst selbst, auf intime, teils fast distanzlose Weise – ihr fotografisches Lebenswerk ausmacht.
„The Ballad of Sexual Dependency“
Poitras orientiert sich dabei immer wieder an Goldins großen Serien. Kunst und Leben, darin bekanntlich engmaschig verflochten, werden somit zur konstitutiven Leitmelodie des Films. Allen voran steht hier natürlich „The Ballad of Sexual Dependency“ (1986), eine der bekanntesten und wohl auch wichtigsten Serien der Fotografin. Sie umfasst an die 800 Aufnahmen von Kings und Queens, Sexpartnern und Freundschaften, Menschen aus Goldins Umfeld der späten 1970er- und 1980er-Jahre zwischen Boston, New York und Berlin. In einem berühmten Bild jener Serie („Nan one month after being battered“), einem Selbstportrait, blickt Goldin direkt in die Kamera: im Weiß ihres geschwollenen Auges sammelt sich tiefrotes Blut, das auf unheimliche Weise den Farbton des Lippenstifts spiegelt.
Es ist Abbild der Gewalt ihres Ex-Freunds, der Goldin in einem Moment plötzlicher Eifersucht krankenhausreif schlug. „Frauen, die misshandelt wurden, haben mir gesagt, dass sie aufgrund dieser Bilder in der Lage waren, darüber zu sprechen“, erinnert sich Goldin im Film.
Ähnlich heftig ist der Einblick in Goldins Serie „Sisters, Saints and Sibyls“, in der sie ihr Elternhaus erforscht und versucht, dem Suizid ihrer Schwester Barbara von 1964 eine Art Sinn zu verleihen – oder ihm zumindest auf den Grund zu gehen. Anhand psychiatrischer Akten macht Goldin deutlich, dass die Erzählung der Eltern von der untragbaren Verhaltensauffälligkeit der Tochter eigentlich gar nicht stimmte.
Dass die Eltern vielmehr nicht in der Lage waren, sich angemessen um Barbara zu kümmern. Wenige Jahre später wurde Goldin von den Eltern über eine Adoptivagentur in eine Pflegefamilie vermittelt, von der aus sie mit 15 in eine Kommune zog und sich eine eigene Familie zusammenstellte. Dass neben all der Diskriminierung, die sie und Goldins queere Zeitgenossen in diesen Jahren erfuhren, auch der Glamour, die Unbeschwertheit und funkelnde Anmut jener Tage fühlbar wird, ist ein Punkt, wo Poitras Film sich Goldins Werk ganz deutlich, gewissermaßen mimetisch annähert.

Ein Schmerz wie ein Echo
Der Schmerz ihrer Community klingt im Film immer wieder wie als Echo im Schmerz derer an, die Angehörige, teils eigene Kinder, durch Überdosen oder Folgeabhängigkeiten von Opioid-Medikamenten verloren haben. Etwa in den Aktionen, in denen die P.A.I.N.-Aktivisten Pillendosen in den Brunnen im Metropolitan Museum of Art werfen. Oder wenn sie sogenannte Die Ins organisieren: Goldin und ihre Mitstreiterinnen stellen sich tot und legen sich auf den Boden des Museums. Diese Aktionen fordern Rechenschaft ein.
Nicht zuletzt auch wegen Goldins Berühmtheit und weil ihre Werke teils in denselben Institutionen zu sehen sind, die von Sackler erheblich mitfinanziert wurden, fand ihre Kampagne international Anklang und führte letztlich dazu, dass einige der größten Museen der Welt – wie das Moma, das Met, das Guggenheim, die Tate oder das Louvre – den Namen der Sacklers aus ihren Gebäuden entfernten und Folgespenden ausschlugen.
Im Verhältnis zu den unermesslichen menschlichen und finanziellen Kosten, die die Sacklers durch schamlose Desinformation über vermeintlich risikofreie Medikamente verursachten (im Film ist von über 109.000 Toten allein 2022 die Rede), wirkt der Erfolg von P.A.I.N. eher bescheiden. Gerichtlich konnte gegen die Sacklers kaum etwas bewirkt werden. Der Druck auf Museen, das „Artwashing“, sprich die Image-Politur, der Sacklers zu beenden und Förderer in Zukunft genauer auf die Werte abzustimmen, die sich durch dort ausgestellte Kunst transportieren, scheint heute jedoch Früchte getragen und zu einem breiteren Umdenken beigetragen zu haben. Teilweise, wie ein offener Brief um die Finanzierung einer Kunstausstellung in Leipzig durch das Überwachungsunternehmen Palantir zeigt, auch hier in Deutschland.

