Es regnet ohne Unterlass. Alles ist in Eile. Mit hochgeschlagenen Mantelkragen hasten die Passanten durch das urbane Chaos zwischen Häuserschluchten, U-Bahn-Schächten und S-Bahn-Viadukten. Kleine Händler und leichte Mädchen hoffen auf Umsatz. Ein Herr baut mitten im Gedränge ein Fernrohr auf. Zehn Pfennige kostet ein Blick in den zugezogenen Himmel. Vielleicht reißt er ja bald auf. Und möglicherweise lässt sich dann sogar in die Zukunft blicken?
Der selten gezeigte Film „Silvesternacht am Alexanderplatz“ spielt in der Nacht des Jahreswechsels auf das Jahr 1939. Im Mittelpunkt steht ein Freundespaar mit ganz unterschiedlichen Ambitionen. Während Reinhardt seinem Leben ein Ende setzen will, geht Dr. Storp seiner Pflicht als diensthabender Arzt in der Notaufnahme nach. Er überredet seinen suizidären Kumpel, ihn auf der Nachtschicht zu begleiten – in der Hoffnung, dass diesen die Konfrontation mit der rauen Wirklichkeit zur Besinnung bringen möge. Nun entfaltet sich vor den Augen Reinhardts und vor denen der Zuschauer ein schillernd-abgründiges Panorama aus Einzelschicksalen. Ein tödlicher Unfall mit Fahrerflucht wird für die Freunde zur Zäsur, um künftig mit offeneren Augen durch ihr Leben zu gehen.
Richard Schneider-Edenkoben hat dieses Silvester-Karussell routiniert in Szene gesetzt. Bis in die Nebenrollen hinein vorzüglich besetzt, wird das weit gefächerte Handlungs- und Personenspektrum dadurch gekonnt zusammengehalten. Als wirksamer Kunstgriff erweist sich, die mehr und mehr ins Chaos abdriftende Rettungsstation als Schnittstelle zu nutzen und Dr. Storp als einen selbst von Problemen gebeutelten Menschen zu zeichnen. Sehenswert ist der Film heute vor allem wegen seines (teils unfreiwillig) transportierten Zeitgeistes. Zu erleben ist hier ein verschwundenes, trotz aller Überschreibungen bis heute nachwirkendes Berlin. Restauration und Moderne gehen hier fließend ineinander über. Unmittelbar neben einer kitschigen „Berolina“-Skulptur steht Peter Behrens’ kühnes Büro- und Geschäftshaus gleichen Namens.
Stadt wie Film haben Tempo, lassen dabei nie vergessen, dass hinter den Fassaden kleinliche Zänkereien ausgetragen werden, die haarscharf in Tragödien klassischen Ausmaßes umkippen können. Bisweilen blitzt sogar etwas vom Blues eines Franz Biberkopf auf – freilich ohne die Schärfe Alfred Döblins.
Konkrete antisemitische Ausfälle finden keine statt, nicht eine einzige Nazi-Uniform oder -Fahne ist zu sehen in diesem Film. Einmal wird erwähnt, dass die Halbwelt dank der neuen Zeit ja nun endlich der Vergangenheit angehört. Was sich etwas alibihaft anhört – denn es sind jede Menge Prostituierte zu sehen. Wenn die Kamera über die Geschäfte des Alexanderplatzes schwenkt, geht einem manches durch den Kopf. Einige der berühmten Firmen waren damals längst „arisiert“, ebenso wie die gesamte deutsche Filmindustrie. Während der Dreharbeiten inszenierten die Nazis übrigens nicht nur Filme. Auch das Pogrom des 9. November fand zu dieser Zeit statt.

