Die Kamera fährt auf eine Werkbank zu, dort steht eine schlichte Baumscheibe, noch von Rinde umhüllt. Und schon geht es los: Aus der Oberfläche schält sich der Filmtitel, dann legt sich eine visuelle Schicht nach der anderen frei, ganze Zivilisationsprozesse entfaltend. Von der unberührten Natur über die Besiedlung durch den Homo sapiens bis hin zu seinem Aufstieg zu höchsten handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten, schließlich zum möglichen Absturz in die Selbstvernichtung. In nur sechs Minuten erschafft Owen Klatte mit seiner handgeschnitzten Animation „Of Wood“ ein pralles Universum und stellt grundlegende philosophische Fragen – ohne sich anzumaßen, diese beantworten zu können.
In diesem bravourösen Stück bündeln sich Tugenden einer noch immer unterschätzten filmischen Gattung. Es zeigt sich: Animationsfilme können durchaus handwerklich versiert, inhaltlich kompakt und von funkelnder Kreativität sein! Doch durch den Begriff „Trickfilm“ verniedlicht oder als bloße Ablenkungsdroge für die „ganz Kleinen“ missverstanden, werden ihre Potenzen allzu oft verkannt. In Deutschland führt diese Kunst ein Schattendasein, wird in ihrer langen, für Erwachsene gedachten Form als „Kassengift“ gescholten und findet deshalb fast nie den Weg auf die regulären Kinoleinwände. Und dies obwohl Lotte Reiniger (1899–1981) mit „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ bereits 1926 den weltweit ersten abendfüllenden Animationsfilm schuf.
Frankreich zeigt, wie es geht
Im Vergleich zu Frankreich ist Deutschland heute ein antimationsfilmisches Entwicklungsland. Das „Festival of Animation Berlin“ arbeitet seit sechs Jahren diesem Manko entgegen und hat auch diesmal Großartiges im Programm. In „Bestia“ gießt der Chilene Hugo Covarrubias seelische, durch die Diktatur ausgelöste Deformationen in die nur scheinbar harmlose Gestalt eines 15-minütigen Puppenfilms – das Ergebnis ist eine stark lynchesk angehauchte Schocktherapie, die ganz ohne Worte auskommt. Sehenswert ist auch „Easter Eggs“ von Nicolas Keppens aus Belgien, der in „Beavis und Butt-Head“-Ästhetik die hilflose Sinnsuche zweier seelisch entkoppelter Teenager zeigt. Oder „BusLine35A“ der jungen dänischen Regisseurin Elena Felici: Sie führt multiperspektivisch in den bedrohlichen Mikrokosmos eines Nachtbusses.
Neben zahlreichen kurzen Werken für ein erwachsenes Publikum bietet das Festival auch Kinderprogramme sowie Workshops, Gespräche und Ausstellungen. Mit „Les Hirondelles de Kaboul“ (Die Schwalben von Kabul) läuft auch eine abendfüllende Arbeit. Sie stammt, natürlich, aus Frankreich. Die als Schauspielerin bekannt gewordene Zabou Breitman („La Boum 2“) erzählt in ihrem Animationsfilm-Debüt eine düstere Geschichte aus dem unter dem Taliban-Regime erstickenden Land. Eigentlich als historischer Rückblick auf das Jahr 1998 entstanden, ist diese Studie auf die Zerbrechlichkeit von menschlichen Grundrechten in Afghanistan (und anderswo) schon wieder zur traurigen Realität geworden.


