Kino

„Arielle“-Regisseur Rob Marshall: „Es gab keine Agenda, eine Woman of Color zu besetzen“

Die Reaktionen auf die Besetzung von Halle Bailey als Meerjungfrau Arielle waren extrem. Der Regisseur war davon völlig überrascht, wie er im Interview erzählt.

Arielle (Halle Bailey) mit Dingelhopper und ihrem Fischfreund Fabius.
Arielle (Halle Bailey) mit Dingelhopper und ihrem Fischfreund Fabius.Disney

Begeisterte Kinder, grollende Trolle: Als der erste Teaser zur Realverfilmung von „Arielle, die Meerjungfrau“ veröffentlicht wurde, mit der schwarzen Schauspielerin Halle Bailey in der Hauptrolle, kam man in den sozialen Medien an dem Thema nicht vorbei. Warum er damit nicht gerechnet hätte, welche Wege der Zeichentrickfilm von 1989 ebnete und was Realfilme besser können, erzählte der Regisseur Rob Marshall nun anlässlich der Filmpremiere in Berlin.

Herr Marshall, als Arielle, die kleine Meerjungfrau ins Kino kam, waren Sie 29 Jahre alt. Nicht unbedingt die Zielgruppe. Wann haben Sie den Film gesehen?

Ich bin sofort ins Kino gegangen. Ich habe zu der Zeit am Broadway gearbeitet und unsere gesamte Community war total begeistert, weil „Arielle, die Meerjungfrau“ in gewisser Weise das Comeback der Musicalfilme markierte. Das war eine große Sache. Denn zu diesem Zeitpunkt war das Genre völlig aus der Mode. Und nun kam da dieser neue, großartige Film heraus, den viel mit dem Broadway verband, auch wenn er animiert war. In dem Sinne, dass die Songs wirklich die Geschichte vorantrieben. Und tatsächlich folgte dann eine Renaissance animierter Musicalfilme. Ich persönlich betrachte Arielle deshalb auch noch immer als den Film, der „Chicago“, den ich 2002 gedreht habe, möglich gemacht hat. Denn zu diesem Zeitpunkt waren die Zuschauer bereit, es zu akzeptieren, dass Figuren nach gesprochenen Dialogen plötzlich anfingen zu singen. Sie kannten es aus den Zeichentrickfilmen, deshalb irritierte es irgendwann auch in Realfilmen nicht mehr.

Wie blicken Sie auf den Status quo des Genres?

Es gibt heute wieder viele Musicalfilme, und darüber bin ich sehr froh. Es ist natürlich ein sehr schwieriges, ein empfindliches Genre. Innerhalb von Sekunden kann das Ganze in Richtung „Saturday Night Live“ kippen, zu einer Parodie von sich selbst werden. Ein Musical fühlt sich entweder organisch an – oder peinlich. Dazwischen gibt es nicht viel. Mein Ziel in diesem Genre ist es immer, Songs zu kreieren, bei denen es sich anfühlt, als gäbe es in diesem Moment keinen anderen Weg, um auszudrücken, was gesagt werden soll. Eigentlich soll man gar nicht groß merken, dass ein Lied begonnen hat. In unserem Film wird erst nach 15 Minuten zum ersten Mal gesungen: „In deiner Welt“, was ja in gewisser Weise das Äquivalent zu „Somewhere Over The Rainbow“ aus „Der Zauberer von Oz“ ist. Hier offenbart sich das zentrale Begehren der Hauptfigur, der Motor, der die Handlung voranbringt. Aber einen solchen Moment muss man sich in der Inszenierung verdienen. Sonst funktioniert es nicht.

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dpa
ZUr person
Rob Marshall 
Rob Marshall begann seine Karriere als Darsteller am Broadway. Nach einem Bandscheibenvorfall begann er als Choreograf zu arbeiten, als Regisseur gelang ihm 2002 mit seinem zweiten Film „Chicago“ der Durchbruch. Der Film gewann sechs Oscars. Später inszenierte Marshall etwa „Die Geisha“ (2005), „Fluch der Karibik“ (2011) und „Into the Woods“ (2014).

„Arielle, die Meerjungfrau“ hat die Kindheit von Generationen mitgeprägt. Wie macht man sich so eine Geschichte zu eigen und wie groß ist die Angst, Fans des Originals zu enttäuschen?

Ich versuche, Angst beim Arbeiten auszublenden und mich stattdessen auf die Leidenschaft, die Lust zu konzentrieren. Ich bin zur Vorbereitung zur Vorlage von Hans Christian Andersen zurückgegangen und war überrascht, wie modern sich die Geschichte anfühlte. Eine junge Frau, die sich in ihrem Leben deplatziert fühlt und ausbricht, um ihre Träume zu verwirklichen. Die lernt, eine Brücke zu bauen zwischen ihrer eigenen und einer anderen Welt, die sich nicht vor Menschen fürchtet, die anders sind als sie, die hinter einer Grenze leben. Das erschien mir sehr zeitgenössisch und wichtig, so habe ich zum Kern der Geschichte gefunden, die ich erzählen wollte. Von da an ging es weiter.

Wonach haben Sie beim Casting für Arielle Ausschau gehalten?

Es ist eine extrem anspruchsvolle Rolle. Zum einen natürlich, weil der Gesang so essenziell ist ...

War denn immer klar, dass alle Schauspieler auch selbst singen würden?

Hundertprozentig. Ich glaube, die Idee, das zu trennen, ist absolut passé. Das mag in den 60er-Jahren akzeptiert worden sein, aber heute würde das nicht mehr funktionieren. Wir mussten also jemanden finden, der alles kann. Dazu habe ich eine junge Frau gesucht, die einen starken Willen hat und sehr leidenschaftlich, dazu aber auch verletzlich ist und eine gewisse Naivität mitbringt, weil Arielle in der Welt der Menschen ja auch ein fish out of water ist. Und sie sollte Freude mitbringen! Tatsächlich war Halle Bailey die erste Schauspielerin, die zum Casting kam. Sie fragte, ob sie zuerst singen oder sprechen solle, und wir ließen ihr freie Wahl. Sie sang – und es war so schön und so emotional, dass ich am Ende weinte. Ich konnte nicht glauben, dass wir gleich am Anfang unsere Arielle gefunden haben sollten. Und wir haben dann noch Hunderte andere Mädchen angeschaut. Aber Halle hatte die Messlatte so hoch gelegt, dass niemand mehr drüberkam. Im Endeffekt musste ich mich also gar nicht für jemanden entscheiden. Halle hat die Sache für mich entschieden.

Längst verliebt: Arielle und der frisch gerettete Prinz Erik (Jonah Hauer-King)
Längst verliebt: Arielle und der frisch gerettete Prinz Erik (Jonah Hauer-King)Disney

Online waren die Reaktionen darauf, dass eine schwarze Schauspielerin gecastet wurde, sehr heftig. Sowohl positiv als auch negativ. Hat Sie das überrascht?

Absolut. Es gab übrigens keine Agenda, eine Woman of Color zu besetzen. Wir haben einfach die beste Arielle gesucht und dafür Frauen aller möglichen Ethnien zum Casting eingeladen. Als unsere Wahl dann publik wurde, haben mich die Reaktionen völlig überrascht. Das fühlte sich so archaisch an. Ich dachte: Kann es denn wirklich wahr sein, dass wir 2023 noch über die Hautfarben von Schauspielern diskutieren? An diesem Punkt sind wir? Ich fühlte mich wie in einem anderen Jahrhundert. Vor 25 Jahren habe ich an einem Cinderella-Film fürs Fernsehen gearbeitet, mit Brandi in der Hauptrolle. Deshalb konnte ich nicht fassen, dass das Casting von Halle heutzutage so aufgenommen wurde. Für mich war es dann allerdings wunderbar, zu sehen, wie schwarze junge Mädchen und Jungs auf die ersten Teaser reagierten. Das hat mich sehr berührt. Deshalb erfüllt es mich heute mit Stolz, dass wir mit unserer Entscheidung anscheinend etwas bewegt haben. Auch wenn das gar nicht die Intention war.

Wie ist Halle Bailey mit den Reaktionen und der Berichterstattung umgegangen?

Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich in irgendeiner Weise davon hat beeinflussen lassen. Sie ist für ihr Alter unglaublich weise. Als sie zum Casting kam, war sie 18, heute ist sie 23. Ich glaube, sie versteht, was ihre Rolle für viele Menschen bedeutet, sie weiß, dass es wichtig ist, was sie tut und das Ganze größer ist als sie selbst. Aber sie behält immer die Nerven.

„Arielle, die Meerjungfrau“ ist ein Märchen, Meerjungfrauen sind Fabelwesen. Was halten Sie generell von sogenanntem Colorblind Casting, also einer Besetzung, bei der die Hautfarbe kein Kriterium ist?

Ich liebe es und ich habe mein ganzes Leben lang so gearbeitet, angefangen am Theater. So sollte man es machen: einfach die Person casten, die am besten zu einer Rolle passt. Ich hoffe sehr, dass wir in ein paar Jahren auf diese Debatte zurückblicken und begreifen, wie lächerlich das alles war.

Es gibt einige Änderungen in Ihrem Remake, zwei sind mir besonders aufgefallen. Erstens: Im Original singt die Krabbe Sebastian ins Ohr von Prinz Erik, dass er keine Worte brauche, sondern Arielle einfach küssen solle. Nun fordert er ihn auf, seine Worte zu benutzen und sie zu fragen. (Anm. d. Red.: In der deutsche Version von „Nur ein Kuss“ hat sich am Text nichts verändert“). Die zweite Änderung betrifft den finalen Kampf gegen Ursula. Können Sie erklären, wie der Modernisierungsprozess ablief?

Es ist ganz einfach: Wir leben im Jahr 2023 und nicht mehr im Jahr 1989, in dem der erste Film entstand. Wir schauen nun durch eine andere Linse in die Welt und eben auch auf Filme. Was sich alt oder unmodern anfühlte, wollten wir deshalb auffrischen. Es gibt neue Storylines und auch neue Songs, von Alan Menken, der schon die alten Songs komponiert hat, und Lin-Manuel Miranda, der neue Texte geschrieben hat. In unserem Film begegnen sich Arielle und Erik auf einer anderen Ebene, die weniger oberflächlich ist. Sie teilen Interessen, beide fühlen sich in ihrem Leben fehl am Platz und finden einander durch ihre Liebe zu Abenteuern und das Interesse an anderen Kulturen. Was den Schluss angeht: Mir war es wichtig, dass Arielle den Kampf zu Ende bringt. Sie war es, die mit Ursula verhandelt hat, und so sollte es auch an ihr sein, die Sache zu lösen.

Arielle und Erik im karibischen Königreich des Prinzen. Gleich heißt es: „Küss sie doch!“
Arielle und Erik im karibischen Königreich des Prinzen. Gleich heißt es: „Küss sie doch!“Disney

Disney hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Zeichentrickfilme als Realverfilmungen neu aufgelegt. Um nur ein paar zu nennen: „Die Schöne und das Biest“ (2017), „Dumbo“ (2019), „Der König der Löwen“ (2019), „Aladdin“ (2019), „Mulan“ (2020). Welchen Mehrwert bringen diese Filme im Vergleich zu den Originalen mit?

Ich finde es bei diesen Projekten wichtig, dass es Raum für Neuinterpretationen gibt. Nur so kann es gehen, weil Realverfilmungen ein anderes Genre sind, in dem Dinge tiefgreifender und emotionaler erzählt werden können. Das war mein Ziel. Klassische, universelle Geschichten, diese hier war 200 Jahre alt, sollten in verschiedenen Formen immer wieder erzählt werden. Dafür sind sie doch da! Deshalb finde ich diese Remakes großartig – so lange sie etwas Wichtiges und Besonderes zu erzählen haben.

Arielle, die Meerjungfrau läuft ab 25. Mai im Kino.