Locarno

Goldener Leopard für einen versteckt gedrehten Film

Der Iraner Ali Ahmadzadeh gewinnt das Locarno-Festival überragend mit dem finsteren Gesellschaftsporträt „Critical Zone“.

Eine Szene aus dem Siegerfilm „Critical Zone“ („Mantagheye bohrani“) von Ali Ahmadzadeh.
Eine Szene aus dem Siegerfilm „Critical Zone“ („Mantagheye bohrani“) von Ali Ahmadzadeh.Counterintuitivefilm

Vergeblich hatte die iranische Regierung Druck auf den Filmemacher Ali Ahmadzadeh ausgeübt, seinen Wettbewerbsbeitrag aus Locarno wieder abzuziehen, ihm selbst wurde die Ausreise verboten. Nun ist „Critical Zone“ („Mantagheye bohrani“) aus der Filmwelt nicht mehr auszuradieren. Der Goldene Leopard für den Besten Film bestätigte nur noch den emotionalen Nachhall, den die Premiere am vergangenen Donnerstag hinterlassen hatte. Dabei ist der 37-Jährige, den das Berlinale-Forum 2015 mit seinem Spielfilm „Atomic Heart Mother“ international bekannt gemacht hatte, bereits seit langem mit Arbeitsverbot belegt.

Selten hat das Wort vom Underground-Film mehr Wahrheit besessen. Mit Laiendarstellern und drei leicht zu versteckenden Mini-Kameras taucht Ahmadzadeh in das Schattenreich einer unsichtbaren Teheraner Jugend. Zentraler Spielort ist das Auto eines Drogenkuriers, dessen gefährliche Fracht zu tragisch-begehrten Fluchten verhilft. Ein Transmensch, eine Flugbegleiterin oder der depressive Sohn einer verzweifelten Mutter sind die Kunden, zu denen ihn eine teilnahmslose Navi-Stimme führt. Den Jungen kann er im letzten Moment vor einer Überdosis bewahren. Wie ein mythologischer Fährmann schippert dieser vielfach umarmte Todesengel an den Ufern seines Hades entlang.

Ein sensationeller Film

Schon in seinen ersten Bildern durch einen Großstadttunnel holt dieses berückende Gesellschaftsporträt tief Luft, um uns anderthalb Stunden in Atem zu halten. Unter den Umständen der Heimlichkeit vom Regisseur selbst auf visionäre Wiese fotografiert und von Milad Movahedi mit einer sparsamen, aber zielsicher eingesetzten, bittersüßen Filmmusik versehen, ist es ein sensationeller Film.

Wie lange haben westliche Festivals der iranischen Diktatur immer wieder den Gefallen getan, sie mit ihren offiziellen Produktionen liberaler aussehen zu lassen, als sie ist. Oscar-Preisträger Asghar Farhadi verließ erst im vergangenen Jahr vorsichtig seinen offiziellen Kurs, als er die Straßenproteste unterstützte. Doch zu welcher Kunst haben unterdessen die verfemten Regiestars Jafar Panahi und Mohammad Rasoulof den filmischen Untergrund geführt. Nun einen jüngeren Regisseur mit jungen Darstellern diesen Weg weitergehen und diese minimalistische Ästhetik vervollkommnen zu sehen, weckt Hoffnung für die Kunst in finstersten Zeiten. In Locarno appellierte der Produzent Sina Ataeian Dena, der den Film als deutsche Koproduktion realisierte, an das stehend applaudierende Publikum: „Ich will nicht, dass Sie sich freuen. Ich will, dass Sie wütend sind, dass er nicht da sein kann. Die Iraner haben die Hoffnung auf die westliche Politik lange aufgegeben. Seien Sie wütend und tun Sie etwas Revolutionäres mit ihrer Wut.“

Zuvor hatte bereits der Rumäne Radu Jude den Schweizern ins Gewissen geredet, als er sich den Spezialpreis der Jury für seinen Kapitalismus-kritischen Essayfilm „Do Not Expect Too Much from the End of the World“ abholte. Im Zweiten Weltkrieg habe die Schweizer Neutralität näher bei Hitler gestanden, jetzt stehe sie näher bei Putin. Seine Tragikomödie um eine Taxifahrerin, die nebenbei für eine Werbefilmfirma jobbt, findet abseits solcherart plakativer Statements zu einem sehr feinen, humanistischen Blick auf Selbstbestimmtheit in Zeiten der Scheinselbstständigkeit.

Drei deutsche Nachwuchsregisseurinnen mit beeindruckenden Beiträgen

Auch das Festival selbst geriet nie in die Falle, über politische Relevanz die Ästhetik aus den Augen zu verlieren. Insbesondere drei deutsche Nachwuchsregisseurinnen trugen im Wettbewerb „Cineasti del presente“ zu diesem hohen Niveau bei. Die Kölnerin Katharina Huber, bislang eine Größe in der Welt des künstlerischen Animationsfilms, gewann mit ihrem poetischen Endzeitstück „Ein schöner Ort“ den Regiepreis der Sektion und kann nun mit umgerechnet 20.800 Euro Preisgeld das winzige Budget ein wenig kompensieren. Die Mittlerrolle zwischen abstrakter Erfindung und emotionaler Realisierung vollzieht ein erstaunliches, junges Ensemble. Die junge Theaterschauspielerin Clara Schwinning gewinnt dabei eine faszinierende, ätherische Präsenz. Die Jury belohnte diese erstaunliche Leinwand-Begabung mit einem der beiden Schauspielpreise.

Den zweiten teilten sich zwei weitere Kinoentdeckungen in einem weiteren bemerkenswerten Spielfilmdebüt aus Deutschland, „Touched“ von Claudia Rorarius. Auch hier besteht das Wunder des Kinos in der Verwandlung vom Physischen ins Bildhafte. Isold Halldórudóttir und Stavros Zafeiris spielen in diesem gewagten Liebesfilm eine übergewichtige Krankenpflegerin und einen Schwerbehinderten. Rorarius hat hier einen fordernden und polarisierenden Film gewagt und ist damit bei diesem Festival zurzeit an der richtigen Adresse: In der gegenwärtigen Kinokrise hält man in Locarno wenig davon, etwa der Streaming-Konkurrenz eine Bühne zu bereiten, wie es sich bereits vom Festival Venedig ankündigt, das in gut zwei Wochen mit mehreren Netflix-Produktionen startet.

Die Filmkünstlerin Katharina Lüdin, gegenwärtig Studentin an der Berliner UdK, ist eine Anhängerin des analogen 16-mm-Films. Als dritte Deutsche im Debüt-Wettbewerb verteidigt sie die Eigenständigkeit des Kino-Mediums in jeder Kameraeinstellung. Ihr im Theatermilieu angesiedeltes Beziehungsstück „Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ legt die Karten gleich zu Anfang auf den Tisch, wenn eine Gruppe über die Freiheiten des filmischen Mediums diskutiert. Bildgestalterin Katharina Schelling lässt die warmen Pigmente des Analogfilms daraufhin anderthalb Stunden zu literarisch-philosophischen Dialogen funkeln, während sich die Regie mehr als einmal vor dem Vorbild Angela Schanelec verbeugt. So beglückend und geistreich, wie sich das deutsche Kino derzeit mit seinem weiblichen Nachwuchs präsentiert, hat es in der internationalen Festivallandschaft wieder einen Platz.