Liebe & Sex

Auf zur Affenpocken-Impfung: Ein Roadtrip von Berlin nach Rostock

Unser Autor kann auf Sex verzichten, aber nicht auf die Möglichkeit, Sex zu haben. Also machte er sich auf den Weg nach Rostock. Es wurde romantisch.

„Auch wenn ich mir ein wenig lächerlich vorkomme, fühlt sich mit T. als Begleitung alles an wie ein romantisches Roadmovie.“
„Auch wenn ich mir ein wenig lächerlich vorkomme, fühlt sich mit T. als Begleitung alles an wie ein romantisches Roadmovie.“Darren Shaddick für Berliner Zeitung

Als mir mein Freund F. schreibt, er habe einen Termin für einen Affenpockenimpfung in Rostock gefunden, muss ich lachen. Ist es jetzt schon so weit gekommen, dass wir uns in den Zug in ein anderes Bundesland setzen, um uns impfen zu lassen? Realitätscheck: Ich bin in Berlin auf mehreren Wartelisten. Meine Hausarztpraxis schreibt auf der Website, dass von Mails und Anrufen bitte abgesehen werden soll, weil sie sich melden, wenn der Impfstoff bereit ist. Ich verstehe die Logik, aber ich bin trotzdem genervt – schon wieder muss ich einer Impfung hinterherlaufen. Queere Influencer rufen auf Instagram dazu auf, sich impfen zu lassen, aber selbst wer will, kriegt bald keinen Termin mehr. Der Corona-Stress kommt wieder hoch, auch wenn sich der Run auf die Impftermine weit weg anfühlt.

Als die ersten Infoslides zu Affenpockenimpfungen auf Instagram auftauchen, fühle ich mich noch nicht angesprochen. Wird es wirklich so schlimm? Brauche ich das jetzt schon? Im Nachhinein kommt mir das naiv vor. Mir war durch Internetrecherche und Erfahrungsberichte von Anfang an klar, dass Affenpocken eine ernst zu nehmende Krankheit sind. Mir ist auch klar, dass ich das Risiko minimiere, wenn ich Risikokontakte reduziere. Das hat mir nicht erst die Pandemie beigebracht, die ganze Abfolge von Emotionen ist einstudiert. Als queerer Mann in Berlin bin ich an an sexuell übertragbare Krankheiten gewöhnt, ich kann sie nicht vermeiden, aber sie müssen wie ein Projekt gemanagt werden. Und obwohl in Berlin eine sehr große Risikogruppe lebt, ist die Impfstoffversorgung ziemlich schlecht.

Selbstbestimmung statt Ohnmacht

Ich rufe also in der Abteilung für Tropenmedizin der Universitätsklinik Rostock an. Dort bekomme ich sofort einen Termin für Ende August, ich notiere den Termin und schaue nach Zugverbindungen. Wenn ich um 07.30 Uhr im Zug sitze, bin ich pünktlich um 10 Uhr da. In Berlin ist mir sonst eine Arztpraxis am anderen Ende der Stadt schon zu weit weg. Über Impfnebenwirkungen mache ich mir noch keine Gedanken, ich will einfach nur die Impfung haben. Die Vorstellung, komplett auf Sex zu verzichten, bis ich in Berlin eine Impfung bekomme, gefällt mir nicht. Nicht, weil ich nicht auf Sex verzichten kann, sondern weil ich nicht auf die Möglichkeit, Sex zu haben, verzichten will. Lieber liege ich geimpft und gelangweilt alleine auf der Couch, als horny und ungeimpft und mit schlechtem Gewissen irgendwas zu starten. Mir ist Selbstbestimmung wichtig, daraus kann ich Resilienz ziehen. Ohnmacht dagegen zieht mich nur runter.

Als ich den Termin ausmachte, wusste ich nicht, dass ich bis zu meinem Ausflug nach Rostock T. daten würde. T. sagt, er habe Bock mitzukommen, wir könnten uns danach ja noch ein bisschen in Rostock umschauen. Also sitzen wir frühmorgens im IC, nehmen ein Taxi vom Hauptbahnhof ins Krankenhaus und suchen nach der Anmeldung. Alle sind superfreundlich, und auch wenn ich mir ein wenig lächerlich vorkomme, fühlt sich mit T. als Begleitung alles an wie ein romantisches Roadmovie.

Der Arzt ruft mich auf, und ich folge ihm in das Sprechzimmer. Er fragt mich, ob ich aus Berlin angereist sei, wie die Zugfahrt war und warum ich mich impfen lassen will. Kurz fühlt sich das übergriffig an, weil ich das schon bei der Terminvereinbarung am Telefon klar gemacht hatte. Ich sage, dass ich zu den MSM gehöre, also Männer, die Sex mit Männern haben, ohne darauf einzugehen, wie absolut binär der Begriff mir vorkommt. Das gleiche Gespräch hatte ich mit 18, als ich mich beim Gesundheitsamt einer west-deutschen Stadt auf HIV testen ließ. Als MSM kenne ich die Abhängigkeit von medizinischer Versorgung, bin an regelmäßige Tests gewöhnt, durchgeimpft und aufgeklärt, was sexuell übertragbare Krankheiten angeht. Als MSM habe ich ein Netzwerk um mich herum, das mich informiert, sonst hätte mir mein Freund F. auch nicht von der Option erzählt, dass ich mich in Rostock impfen lassen kann. Als MSM fahre ich auch für eine Impfung an die Ostsee.

„Es ist der letzte Tag des 9-Euro-Tickets, der Zug ist überfüllt.“
„Es ist der letzte Tag des 9-Euro-Tickets, der Zug ist überfüllt.“Darren Shaddick für Berliner Zeitung

Am Bahnhof wird mir schwindelig

„Wir hatten eine große Welle von Anrufen aus Berlin“, sagt mir der Arzt, während er den noch gefrorenen Impfstoff in seiner Hand hält, damit er auftaut. Ich bin überrascht – war Rostock doch kein Geheimtipp? Ich frage nach. „Das muss sich rumgesprochen haben“, sagt der Arzt. Er erzählt, dass die Tropenmedizin bald keine Termine mehr vergeben konnte und sich dazu entschloss, den Impfstoff einfach nach Berlin zu schicken, damit er vor Ort verabreicht werden kann.

Mit dem Impfstoff im Arm laufe ich später mit T. durch das Kulturhistorische Museum, wir sehen eine Plastik des Heiligen Georg, wie er einen Drachen tötet. Ich muss lachen, weil die Lanze mich an die Spritze erinnert, mache eine Instagram-Story und flexe mit meiner frischen Impfung. Später essen wir ein Fischbrötchen, weil: Wenn wir schon an der Ostsee sind, dann richtig. Am Bahnhof wird mir schwindelig und schlecht, ich muss mich hinsetzen, damit ich mich nicht übergebe. Die Augen fallen mir zu, Übermüdung und Impfung knallen gleichzeitig. Wir bekommen gerade noch so einen Sitzplatz im Regionalexpress, der uns zurück nach Berlin bringt. Es ist der letzte Tag des 9-Euro-Tickets, der Zug ist überfüllt. Zum Glück fahre ich nicht rückwärts, dann hätte ich mich übergeben müssen. Meine Hand liegt auf T.s Oberschenkel, während er neben mir Candy Crush spielt.

Ich bin froh, dass ich nicht alleine nach Rostock fahren musste und jemand mir das Händchen hält, während ersten Nebenwirkungen auf- und abebben. Auch wenn mein Arm beim Schreiben noch immer wehtut, es war die Reise nach Rostock wert. Ich lasse mich nicht nur für mich impfen, sondern aus Solidarität mit den Menschen, mit denen ich vielleicht niemals schlafen werde. Ich lasse mich impfen, weil ich damit Verantwortung für andere übernehme und gleichzeitig ist es das kleine bisschen Agency, das ich in dieser Situation habe.