Liebe & Sex

Mal Frau, mal Mann: Wie es ist, sich sexuell ganz divers zu verorten

Unsere Autorin haderte lange mit ihrem Geschlecht, fühlte sich einsam und hatte sogar Selbstmordgedanken. Heute ist sie glücklich. Wie hat sie das geschafft?

Gutachter sagten unserer Autorin, man sei entweder im angeborenen Geschecht zu Hause, oder eben im anderen. Sie hat eine andere Erfahrung gemacht.
Gutachter sagten unserer Autorin, man sei entweder im angeborenen Geschecht zu Hause, oder eben im anderen. Sie hat eine andere Erfahrung gemacht.Dai Ruiz

In meinem Kopf herrscht Chaos. Plakative Floskeln wabern, mit bekannten Stimmen murmelnd, flüsternd, schreiend durch meinen Kopf: „Verhalte dich doch mal wie eine Frau, kleide dich weiblicher, sei weich, nett, lieb!“

Mein Vater, Lehrer, Ex-Freunde, der Vater meiner Kinder, Vorgesetzte − alle reden durcheinander, wie in einer Bahnhofshalle. Ich möchte aufbegehren, mir Gehör verschaffen, doch mir fehlen die Worte. Ich möchte mich nicht rechtfertigen, also schweige ich, was als Arroganz oder Trotz verstanden wird. Seit meiner Kindheit, meine ganze Schullaufbahn hindurch, während der Ausbildung und im Studium, in der Familie und unter Freunden und Fremden höre ich immer denselben Konsens: Du siehst aus wie ein Mädchen und verhältst dich wie ein Junge. Das ist verkehrt!

Keine Hilfe von Kassenärzten

Dabei kann ich selbst nicht mal sagen, wer oder was ich bin. Auf meiner Arbeit im Bildungsreferat gibt es eine Kollegin, die sich gerade als trans geoutet hat und mit der ich ins Gespräch komme. „Du bist nicht-binär!“, vermutet sie. „Aha“, sage ich und lausche ihren Worten, dankbar, endlich gesehen zu werden. Was sie sagt, hört sich richtig an und gibt mir eine Erklärung für mein fluides Surfen zwischen den Geschlechteridentitäten. Sie empfiehlt mir einen Psychotherapeuten, der sich auf nicht-binäre und Menschen mit Transidentität spezialisiert hat und mir bei meiner Selbstfindung helfen könnte. Denn eines war mir klar: So wie jetzt geht es nicht weiter. Ich hatte eine alles erschütternde Identitätskrise und war der felsenfesten Überzeugung: „Es gibt niemanden, der so denkt und fühlt wie ich, ich bin nicht richtig und ganz allein. Vielleicht sollte ich gar nicht mehr sein, das wäre doch besser!“

Ich bin ein analytisch und psychologisch geschulter Mensch, und darum gingen bei diesen Gedanken sofort alle Alarmglocken bei mir an. Ich rief den Psychologen an. Wir vereinbarten einen Termin, und ich merkte sofort, dass mir hier jemand zuhörte und helfen konnte, nur hatte er leider keine Kassenzulassung. Vor dem Beginn der therapeutischen Begleitung durch den auf Genderidentitätsthemen geschulten Psychologen musste ich ein unsägliches Verfahren der Therapiebeantragung durchlaufen, mit etlichen Gutachtern, die behaupteten, dass es keinen Zustand zwischen den Geschlechtern oder eine Zweigeschlechtlichkeit gäbe. Man sei entweder in dem Geschlecht zu Hause, in dem man geboren sei, oder eben im anderen und somit transgeschlechtlich.

In diesem Gesundheitssystem gab es für mich keine Hilfe. Ich rief also den Psychologen an und vereinbarte mit ihm ein wirklich faires, für meine Verhältnisse trotzdem schmerzhaftes Honorar, das ich für die nächsten zwei Jahre selbst zahlen würde.

Der Mann in mir traute sich langsam hevor

Wir sortierten meine Gedanken und Gefühle, und ich erkannte: In mir gab es mindestens zwei Geschlechter. Eine Frau, die sich ziemlich oft verhielt wie eine Kämpferin, wegen all der Attacken gegen sie als Frau. Dahinter gab es bestimmt noch viele Schichten an weiblicher Persönlichkeit, aber die waren verdeckt und zu diesem Zeitpunkt nur zu erahnen.

Dann gab es einen Mann, der sich langsam, schüchtern und zaghaft hervortraute und sich immer häufiger zeigen wollte. Ihn bewusst wahrzunehmen, kennenzulernen und zu begrüßen war wie ein Geschenk. In den nächsten Monaten zeigte er sich gerne in geschützten Räumen von achtsamen Workshops, die ich besuchte, um mich besser verstehen zu lernen. Ich bewegte mich sowohl in queeren als auch heteronormativen Räumen. Ich stieß häufig auf Verständnis, Neugier und echtes Interesse, nur selten allerdings auf Gleichgesinnte, weil ich in der heteronormativen Welt zu queer war und in der queeren Welt nicht queer genug. Zugleich wurde mir und meiner Umgebung in diesem ständigen Geschlechterkarussell manchmal schwindelig.

Manchmal wachte ich morgens als Frau auf und ging abends als Mann schlafen. Dann gab es wieder beständigere Phasen von Frau- oder Mannsein und damit Gedanken über eine Hormontherapie.

Ich konnte mich aber nicht von meinen Brüsten trennen, ich finde und fand sie immer schön. Da ich mit meiner grobknochigen, athletischen Figur und den sehr kurzen Haaren nicht dem klassisch weiblichen Schönheitsideal entspreche, habe ich selten Komplimente zu meinem Äußeren bekommen. Wenn, dann für meine ausdrucksstarken Katzenaugen und malerischen Brüste.

Ich kann mich an eine Szene in meinen frühen 20ern erinnern, als ich in der freien Theaterszene aktiv war und mich eine Mitdarstellerin bat, ihrem Freund, einem Künstler, meine Brüste zu zeigen, der sie begeistert bewunderte und gerne auch erkunden wollte. Ich fühlte mich geschmeichelt und ließ ihn mal anfassen.

In dieser Zeit erlebte ich eine kurze Phase von Zuspruch für meine Androgynität. Es passte in die Kunstszene, jedoch wurde ich meist als lesbisch gelesen, was mit meiner Bisexualität nicht ganz zusammenpasste.

Die Bewunderung meines Körpers habe ich damals als Wertschätzung verstanden. Heute sehe ich es anders, und doch kann ich mich nicht dazu entschließen, den Schritt in Richtung Transidentität zu gehen. Die Frau ist eben auch noch da, sie mag ihre Brüste und auch ihre Vulva.

An Beziehungen war lange nicht zu denken

Eine Zeit lang habe ich mit dem Gedanken gespielt, meinen Hormonstatus bestimmen zu lassen, jedoch mit welcher Konsequenz, wenn doch für mich schon klar ist, dass ich keine Hormontherapie möchte?

Meine Mann-Identität hat eine Weile fast schmerzlich vermisst, was körperlich nicht da war, und in diesen Phasen stand ich mit meinen weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf Kriegsfuß und tat alles, um optisch männlicher zu wirken, inklusive Packer (Einsteckpenis aus Silikon) und Binder (Kompressionshemd zum Abbinden der Brust).

Es war eine bewegte und manchmal stürmische Zeit, zwischen den Geschlechtern hin und her zu wechseln, und das macht es vielen Menschen schwer, sich wirklich auf mich einzulassen. Wie sollte es mir da gelingen, einen oder mehrere Beziehungspartner zu finden? In Momenten bewusster Weiblichkeit konnte ich mit meiner wilden und leidenschaftlichen Seite punkten. Es machte mir Spaß, in Rollen zu schlüpfen, doch wenn ich sie verließ, fühlte ich mich wieder verunsichert und frustriert. Sex ging nur als Rollenspiel, und an Beziehungen war nicht zu denken.

Meine Mann-Identität stieß bestenfalls auf achtsame Ablehnung. Einer meiner Herzensmenschen, der damals auch mein Sexualpartner war, stand auf Rundungen und weibliche Sexualität, weshalb wir nach anfänglichen Versuchen, sexuell zusammenzufinden, wieder damit aufhörten. Das tat weh, tut es heute aber nicht mehr, handelt es sich doch um einen der ersten Menschen, die mich in meiner diversen Identität liebevoll angenommen haben.

Ich kann es mir nicht aussuchen, ob ich Mann oder Frau bin

Es hat gedauert, bis sich meine Geschlechteridentität integriert hat, vielleicht erst mit meinem jetzigen Partner, der völlig unbedarft in mein nicht-binäres Universum gestolpert ist und mich so annimmt, wie ich bin. Er verzichtet auf Kategorisierungen, anfangs sogar auf Pronomen, und meint augenzwinkernd und annehmend: Das alles bist du!

Ich fühlte mich auf einmal kompletter und muss mich nicht mehr als Frau beweisen, kann auch mal weich und sanft sein, was früher absolut unmöglich war. Häufig habe ich in Gesprächen gehört, es sei doch normal, sich mal weiblicher oder männlicher zu fühlen. Jeder habe schließlich weibliche und männliche Anteile und würde sich mal mehr in die eine und mal in die andere Richtung bewegen. Das kann ich nachvollziehen. Und doch ist es bei mir und vielen anderen nicht-binären Menschen ganz anders.

Ich kann es mir nicht aussuchen, ob ich Frau oder Mann bin. Vielleicht denke ich aber auch selbst zu sehr in diesem festgefahrenem weiblich-männlich-Geschlechterkonzept und versuche, mich in etwas hineinzufügen, was nicht passt. Ich wurde oft aufgefordert, mich einzuordnen, um dazuzugehören. Cis oder trans, Frau oder Mann, Hetero oder... Hier komme ich ins Schwimmen, denn ein Mann, der auf andere Männer steht, ist schwul. Sag das mal einem potenziellen schwulen Partner, der mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen nichts anfangen kann. Mein Therapeut hat mir damals Mut zugesprochen und mir erzählt, dass er einige nicht-binäre Menschen in Partnerschaften kenne, die sehr unterschiedlich seien: Partnerschaften mit Männern, Frauen, nicht-binären- oder Transmenschen in homo-, bi- oder heterosexueller Ausprägung. Die ganze Vielfalt an Möglichkeiten. Es gibt eben auch Menschen, die es schaffen, ihre Partner frei von geschlechtereinengenden Kategorien wahrzunehmen und zu lieben.

Heute darf ich mich dazuzählen zu der Gruppe nicht-binärer Menschen in Partnerschaften. Ich verstecke mich nicht mehr und verkleide mich auch nicht, außer ich schlüpfe aus reiner Freude in eine Rolle.