Es sind ein paar Sekunden, in denen sich das Leben von Marina Owsjannikowa, einer russischen Mutter mit Familie, auskömmlicher Arbeit und Hobbys, verändert hat. Die Mitarbeiterin des russischen Staatssenders Erster Kanal betritt am Montagabend während der Hauptnachrichtensendung um 21 Uhr das Studio, rennt zehn Schritte in den Raum, sucht den Bildausschnitt der TV-Kameras und hält ein Protestplakat hoch: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Die Live-Regie reagiert nach fünf Sekunden – nicht schnell genug. Owsjannikowa konnte mehrmals „Kein Krieg!“ rufen, die Bilder waren im Kasten, bevor umgeschaltet wurde, und finden nun Verbreitung über die sozialen Medien, wo Owsjannikowa als Heldin gefeiert wird.
Nicht zu sehen ist, was dann geschah. Kollegen werden Marina Owsjannikowa aus dem Studio geführt und die Polizei gerufen haben. Von der 44-Jährigen fehlte stundenlang am Dienstag jede Spur. Am Nachmittag dann veröffentlichte der russische Journalist Alexej Wenediktow in seinem Telegram-Kanal ein Foto von Owssjannikowa mit ihrem Anwalt Anton Gaschinski in einem Gerichtsgebäude. Russische Medien berichteten, dass die TV-Mitarbeiterin wegen der Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion belangt werde. Ihr droht demnach eine Arreststrafe von zehn Tagen oder 30 000 Rubel (226 Euro) Ordnungsstrafe oder bis zu 50 Stunden gemeinnützige Arbeit. Ihr Anwalt Gaschinski wies darauf hin, dass Owssjannikowa als Mutter von Kindern im Alter von 11 und 17 Jahren nicht zu einer Arreststrafe verurteilt werden dürfe. Zunächst war befürchtet worden, die Redakteurin könnte nach einem umstrittenen neuen Gesetz wegen Diffamierung der russische Armee verurteilt werden. Wer das Ansehen von Putins Streitkräften durch vermeintliche oder reale Falschmeldungen beschmutzt, dem drohen neuerdings in Russland bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Bevor Marina Owsjannikowa ihren Auftritt absolvierte, postete sie mit einer Halskette in russischen und ukrainischen Farben auf Twitter ein Selfievideo. In aller Klarheit benennt sie, was offiziell nur „militärische Sonderoperation“ heißen darf, als „Brudermord-Krieg“ und als ein Verbrechen, für das Putin verantwortlich ist und von dessen Schande „sich zehn Generationen unserer Nachfahren nicht reinwaschen können“.

