Kolumne

Ein gelb-blauer Reisebericht

In Mailand hängen selbst in kleinen Bars die Flaggen der Ukraine.

Angehörige der ukrainischen Gemeinde in Mailand halten ukrainische Flaggen vor dem Beginn eines Benefizkonzerts für die Ukraine im Teatro alla Scala am 4. April
Angehörige der ukrainischen Gemeinde in Mailand halten ukrainische Flaggen vor dem Beginn eines Benefizkonzerts für die Ukraine im Teatro alla Scala am 4. AprilAP

Reisen bildet. Wird gesagt. Da steht man also in Mailand – eine tolle, wirklich sehr schicke, arbeitsame und lebendige Stadt – und sieht eine Tram auf sich zurollen. Mailand ist aus irgendeinem Grund eine Art rollendes Straßenbahnmuseum. Es gibt zwar auch einige moderne Züge, eher banales Stromliniendesign. Aber beliebt sind nur die alten, in Kurven mit großer Begeisterung des Fahrers zur kreischenden Rasanz beschleunigenden Wagen mit geknickten Enden, feiner Holzausstattung, geteilten Fenstern und hellem „Kling“ als Halteglocke. Wahre Energieschleudern. Andererseits: Die graue Energie, die in ihnen nach 80 und mehr Jahren Betrieb gebunden ist, darf auch nicht unterschätzt werden.

Klare Ideen, welche Bedeutung die Freiheit hat

Also, so ein Waggon ratterte jedenfalls auf uns zu – knallgelb und knallblau gestrichen. Ein Versicherungskonzern mietet die Werbefläche, um seine Solidarität mit der Ukraine stadtweit zu verkünden. Kein Sonderfall in dieser Stadt, die sich seit jeher nicht nur als die wirtschaftliche, sondern auch die politische Metropole Italiens begreift. Hier ist man betont bürgerlich selbstständig, mit manchmal zwar unangenehm regionalistischem Unterton – die Graffiti der rechtsnationalistischen Lega Nord sind kaum zu übersehen. Aber es gibt eben auch klare Ideen darüber, welche Bedeutung die Freiheit hat, über seinen eigenen Lebensweg zu entscheiden. Auch deswegen ist Mailand eine Mode- und Designstadt. Jetzt hängen selbst in kleinen Bars die Flaggen der Ukraine, sogar über dem Eingang zu einem Geschäft für super-super-edle Messer. Der Verkäufer: Noch nie haben wir in mehr als 150 Jahren freiwillig eine Flagge gehisst. Aber jetzt …

In den Buchläden liegen stapelweise Bücher zur Ukraine, die Zeitungen machen jeden Tag mit dem Krieg auf. Zehn, zwanzig Seiten sind normal. Reportagen, Berichte, Karten. Dass die erste Seite dominiert würde vom Rücktritt einer Parteivorsitzenden, die bei der letzten Wahl kaum so viele Stimmen einfing wie ihre Konkurrentinnen von der Tierschutzpartei, ist in Italien undenkbar. Vielleicht auch, weil der Krieg als Teil der menschlichen Zivilisation in Italien so überaus präsent ist. Nicht nur, weil in wohl jedem historischen Palast, vielen Kirchen und Museen Italiens oft gigantische Schlachtengemälde zu sehen sind, oft mit geradezu gruseliger Lust am Akt des Tötens gemalt. Aus tagesaktueller Sicht ist das oft kaum erträglich, blanke, rohe Gewalt gegen Heilige und Nicht-so-Heilige.

Im Land der dolce vita sind Krieg und gewaltsamer Tod sehr präsent

Neben der Kirche des Mailänder Stadtheiligen Sankt Ambosius steht das kommunale Gefallenendenkmal. Viele Säulen, Innenhof, pathetische Verherrlichung des Tods für das Kollektiv. Doch ist dieses Monument nur Teil einer viel breiteren öffentlichen Gedenklandschaft: An vielen Straßenecken Italiens und vielen Behördenbauten sind bescheidene Travertintafeln für die Toten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und des Widerstands gegen die Deutschen aus dem jeweiligen Stadtviertel angebracht. Nicht verborgen in Kirchen wie in Deutschland, sondern in aller Öffentlichkeit wird hier an die Väter, Söhne, Töchter und Mütter, an Freunde, Nachbarn, Gegner, die Hilflosen, die Opportunisten und die Standhaften, kurz, an die Toten erinnert. Oft hängen unter den erschreckend langen Namenslisten frisch gewundene Kränze. Im Land der dolce vita sind Krieg und gewaltsamer Tod sehr präsent. Möglicherweise ist auch das ein Grund für die so deutlich vielen ukrainischen und Peace-Flaggen an den Balkonen Mailands.