Sex & Liebe

Die Feiertage als Patchworkfamilie: Es weihnachtet einfach zu sehr

Jedes Jahr läuft unsere Autorin im Dezember einen regelrechten Festtagsmarathon. Trotz des Stresses ist die Familie für sie ein Segen.

Anne van den Boogaard für Berliner Zeitung am Wochenende (3)

Wer Liebe sagt, der muss früher oder später auch Leben sagen. Das fängt meist harmlos an. Gerade wühlt man noch ganz unbedarft im Supermarkt kopfüber nach der Lieblingstiefkühlpizza der neuen Flamme, und ehe man sich’s versieht, wandert man nach Südamerika aus, weil einen die Fernbeziehung vor Sehnsucht fast umbringt. Die Liebe ist lebenshungrig. Menschen, die sich lieben, wollen ihr Leben miteinander teilen. Keine Hürde scheint unüberwindbar für dieses Ziel. Ist die ersehnte Lebensgemeinschaft erst gegründet, stehen mit ihr prompt doppelt so viele familiäre Verpflichtungen auf dem Plan. Denn Amor kommt selten allein, gewöhnlich hat er eine ganze Menge Anhang im Gepäck. Und der will vor allem zur Weihnachtszeit zusammenkommen. Besonders in Patchworkfamilien wird das schnell unübersichtlich.

Als mein Freund und ich beschlossen, nicht nur Leben, sondern auch Tisch und Bett zu teilen, zogen mit uns insgesamt drei Kinder aus früheren Beziehungen in die gemeinsame Wohnung. Als klassische Patchworkfamilie haben wir durch die neue Partnerschaft einerseits neue Familie dazugewonnen, wegen der Kinder aus der Ex-Beziehung gleichwohl die alten Verbindungen behalten. Mehr Familie also, das klingt toll, aber wer selbst eine hat, der weiß: Die Dosis macht das Gift. Vor allem, wenn sich die Termine im Kalender stapeln.

Schon der Alltag ist durch das Upgrade auf Großfamilie eine stete Herausforderung, an die es sich nicht nur mit Sozialkompetenz und Organisationsfähigkeit anzupassen gilt: Das Familienauto ist nun ein Kleinbus, das Kochgeschirr für Kantinen geeignet und einer ist immer im Bad. Der Zufall wollte es, dass alle drei Patchwork-Kinder im Dezember Geburtstag haben. Damit gerät der letzte Monat des Jahres in meiner Familie zum anhaltenden Persönlichkeitstest, denn wir müssen die Feste feiern, egal wie ungünstig sie fallen. Jedes Familienmitglied will sein Stück vom Geburtstagskuchen, und der ist bei uns am besten achtstöckig. Die Partnerschaften, aus denen die Kinder stammen, sind nämlich längst nicht die einzigen zerbrochenen Kernfamilien. Trennungen finden sich in jeder Generation. Auch unsere Eltern, Geschwister oder Großeltern haben mit den Jahren neue Lebensgemeinschaften gegründet oder ein zweites, manchmal sogar ein drittes Mal geheiratet. So ergeben sich moderne Familienkonstellationen, die sich anhören, als würde man die Stammlinie Jesu runterbeten, immer wenn auf einer Familienfeier jemand fragt: „Wer ist das?“

Morgen Kinder wird’s schon wieder was geben

In unserem Weihnachtskalender steckt somit wirklich hinter jedem Türchen irgendeine Feierlichkeit. Unsere Ex-Partner und wir sind stets bemüht, die Geburtstage der Kinder gebührend zu zelebrieren. Die Trennungsdramen liegen lange hinter uns, und die Verantwortlichkeiten sind fair und einvernehmlich aufgeteilt. So kam es, dass uns das Wechselmodell in diesem Jahr das Ausrichten aller Kindergeburtstage bescherte. Es wird nämlich dort gefeiert, wo die Kinder an dem Tag zu Hause sind. Also bei meinem Freund und mir.

Was wir Eltern uns mit viel Vernunft, Willen und auch ein paar Terminen beim Mediator oder Psychologen an Harmonie erarbeitet haben, gilt leider nicht für jeden aus der Sippe. Da gibt es alte Wunden, Erbschaftsstreitigkeiten und Zerwürfnisse jeglicher Art, die dazu führen, dass längst nicht alle Familienmitglieder am selben Geburtstagstisch oder unter einem Weihnachtsbaum sitzen wollen. Nächstenliebe hin oder her, bei manchen gilt der kategorische Imperativ: „Wenn der kommt, komm ich nicht!“ So ist es Tradition und völlig irrer Brauch geworden, dass ein Geburtstag im Zweifel gleich mehrfach ausgerichtet wird, um zu verhindern, dass die Familienfehde in einer Tortenschlacht endet. Herzlichen Glückwunsch zum x-ten Mal. Dann kommen die drei Kinder und wollen mit ihren jeweils 28 liebsten Schulfreunden auch noch in die Kletterhalle oder ins Hüpfparadies. Zwischendrin türmen wir zum Gedenken an den heiligen Nikolaus wilde Gaben aus Schokolade und Plastik in Kinderschuhen auf, die der Geburtstagsbesuch gleich dagelassen hat.

Vor unserer Haustür sieht es am Vorabend des 6. Dezember aus wie an einer Quengelkasse. Sind die drei Wiegenfeste und Nikolaus geschafft, geht es sofort weiter mit dem dreitägigen Grande Finale der Festivitäten anlässlich der Geburt Christi. Nachdem wir die Verwandten den halben Dezember lang zu Besuch hatten, kehrt sich die Besuchspflicht zu Weihnachten um und richtet sich nun nach Altersrecht. Jeder Weihnachtsbaum, der in der Bundesrepublik von einem älteren Verwandten aufgestellt wurde, fordert nun sein Besuchsrecht ein. Das Weihnachtsfest fühlt sich in meiner Familie daher an wie Speed-Dating. Zwischendrin übergeben wir die Kinder an Raststätten oder Bahnhöfen wie Hehlerware an die anderen Eltern.

Gerüchte aus der Weihnachtsküche

Bei uns zu Hause sehen die Kinderzimmer derweil immer mehr aus wie Paketzentren, niemand kann mehr Gänsebraten sehen, und die Tischgespräche klingen wie das Durcheinander kurz nach einem Börsencrash an der Wall Street. Keiner hört richtig zu. Das hat Konsequenzen. Bis heute habe ich mit einem hartnäckigen Gerücht zu kämpfen, bloß weil ich als Studentin meiner Großmutter zwischen Kloßteig und Bescherung erzählte, dass ich einen wahnsinnig gut bezahlten Nebenjob als Call Center Agent bei einem Mobilfunkanbieter ergattert hatte. Einige Wochen später rief mich meine Cousine an und berichtete, dass meine Oma, die des Englischen in keiner Weise mächtig ist, statt Call Center Agent immer Call Girl sagen würde, wenn sie in meiner Geburtsstadt gefragt wird, was denn ihre Enkelin jetzt so täte. Nun, das erklärt zumindest, warum mir seither der eine oder andere Unbekannte verschwörerisch zuzwinkert, wenn ich am Heiligen Abend dort die Christmette besuche.

Wieso reden Heteros so wenig über Sex?

Von Tillmann Severin

06.11.2022

Niemand kann es mir also verübeln, dass ich in diesen Tagen Mariah Careys Superhit heimlich umdichte und singe: „All I want for Christmas is Ruu-uuu-he“. Und ruhiger wird es ja tatsächlich nach den stillen Tagen. Das verdanken wir eben auch der Familie. Denn dort, wo andere ein ganzes Dorf brauchen, um ein Kind großzuziehen, haben wir eine riesige Patchworkfamilie, die uns das ganze Jahr hindurch zur Seite steht. Nur deswegen und weil Liebe bekanntlich mehr wird, wenn man sie auf viele Menschen verteilt, beschlossen wir zu Weihnachten vor ein paar Jahren, dass wir ruhig noch ein viertes Kind bekommen können. Der Junge hat Gott sei Dank im September Geburtstag. Was für ein Segen!