Geschichte

Der Weg in die Diktatur: „Nicht mitmachen ist kein Widerstand“

Der Historiker Götz Aly erklärt, wie es den Nazis gelungen ist, so viele gebildete Menschen zum Mitmachen zu bringen. Wie wird ein System schleichend totalitär?

150.000 Menschen jubeln sich selbst und Hitler zu.
150.000 Menschen jubeln sich selbst und Hitler zu.Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Wir treffen Götz Aly in einem kleinen Café nahe dem Ludwigkirchplatz in Wilmersdorf. Wir wollen mit ihm über sein neues Buch sprechen. Es trägt den Titel „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945“. Aly wirkt erleichtert: Die Wochen nach dem Verkaufsstart seien immer hart für einen Autor, aber erste Reaktionen wie die des britischen Historikers Ian Kershaw sind offenbar euphorisch ausgefallen. Aly lächelt und sagt, er habe nun begonnen, seine Bibliothek auszumisten, er wolle nicht dauernd „vom Führer“ umgeben sein.

Götz Aly hat jahrelang über den Nationalsozialismus, den Holocaust und das Judentum in Europa geforscht und geschrieben. Ihn trieb die Frage um, die nun zum Titel seines phänomenalen Buchs geworden ist: Wie konnte das geschehen? Götz Aly sagt, das Buch sei „aus der Herrschaftsperspektive“ geschrieben: „Wie haben die die Leute dazu gekriegt, da mitzumachen?“ Die Leute seien vorher und nachher nicht unmoralischer, krimineller oder dümmer als wir heute. Da die Österreicher „auch ganz gut mitgemacht haben, ist widerlegt, dass man da vorher sechs Jahre ideologische Schulung braucht“.

Der Auschwitz -Prozess habe gezeigt, dass für den organsierten Massenmord ab 1941 nicht nur fanatische Rassisten und Ideologen zuständig waren. „Ein großer Teil des KZ-Personals ist über die Arbeitsämter gekommen“, sagt Aly. Viele der Täter waren „umgesiedelte junge Männer aus den südosteuropäischen deutschen Minderheiten, die jeden Sonntag in die Kirche gehen“. Die hätten „sofort funktioniert“.

Das System „Hitlerdeutschland“ – Aly möchte bewusst nicht von „Faschismus“ sprechen – habe im Wesentlichen darauf beruht, dass Millionen Menschen von ihm profitiert hätten. In „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ stellte Aly 2005 erstmals seine These vor: „Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft – begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord.“

Diese These vertieft Aly in dem neuen Buch um einige zentrale Aspekte: das Tempo, mit dem die Nationalsozialisten Freund und Feind ständig in Atem hielten; die Schuldenmacherei mit dem Krieg als alternativlosem Exit-Szenario; die Euthanasie-Verbrechen als Vorläufer der Massenvernichtung der Juden und schließlich das Bestreben von Propagandaminister Joseph Goebbels, alle Deutschen zu Mitwissern an den Verbrechen zu machen und sie aus Angst vor dem schrecklichen Ende bis zum letzten Mann in einem längst aussichtslos gewordenen Krieg bei der Stange zu halten: „Goebbels erfindet die deutsche Kollektivschuld“, heißt provokant ein Kapitel.

Aly bringt in dem Buch zahlreiche Belege, dass es nicht nur Fanatiker waren, die das System stützten. Er zeigt, wie Organisationen sich angepasst haben und bricht zu diesem Zweck auch Tabus. „Ich bin der erste, der die Gewerkschaften frontal angreift, sagt Aly. „Dieser Quatsch, dass das alles am 2. Mai zerschlagen wurde!“ Er erläutert: „Ich bin ja ein 68er. Ich habe viele Kampfgenossen von damals, die in der Gewerkschaft oder im IG-Metall-Bildungsapparat aufgestiegen sind, schon vor 20 Jahren gefragt: Es geht nicht, dass wir immer nur auf die Deutsche Bank und Daimler zeigen. Können wir nicht einmal eine Ortsverwaltung von tausend Mitgliedern in einer Studie untersuchen um herauszufinden: Wie sind die denn durch die Zeit gekommen? Es gibt zahlreiche Tonbänder, die man auswerten könnte.“ Doch niemand wollte die Studie machen.

Die Rednertribüne des Kongreßsaales während der Eröffnungsfeierlichkeiten. Am 12. Oktober 1949 wird im festlich geschmückten Kongreßsaal des Deutschen Museums in München die Gründungstagung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Anwesenheit von Vertretern der westdeutschen Bundesregierung, der bayerischen Staatsregierung, der Hohen Kommissare der westlichen Besatzungsmächte und des Auslandes eröffnet.
Die Rednertribüne des Kongreßsaales während der Eröffnungsfeierlichkeiten. Am 12. Oktober 1949 wird im festlich geschmückten Kongreßsaal des Deutschen Museums in München die Gründungstagung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Anwesenheit von Vertretern der westdeutschen Bundesregierung, der bayerischen Staatsregierung, der Hohen Kommissare der westlichen Besatzungsmächte und des Auslandes eröffnet.dpa

Aly erlaubt sich in dem Buch an einige Stellen Hinweise auf Kontinuitäten, prangert Geschichtsfälschungen an, etwa jene bei den Gewerkschaften. Er zeigt, wie aus der Deutschen Arbeitsfront (DAF) der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) wurde – eine Umwandlung, die ähnlich „geschmeidig“ erfolgte wie zuvor der Übergang von den Freien Deutschen Gewerkschaften zur DAF.

Aly schildert die Entwicklungen am Beispiel von Geislingen. Dort empfahl am 9. Juni 1933 der aus Stuttgart angereiste Bezirksleiter des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) den 300 DMV-Mitgliedern, „mitzuhelfen am Aufbau … im Sinne der Gleichschaltung und zum Wohle jedes Mitglieds im neuen Deutschland“. Der DMV wurde schließlich in den DAF überführt und bestand unter dem Namen „Fachschaft Eisen und Metall“ bis 1945 „als heimelige Attrappe“ weiter, wie Aly schreibt. 1949 geht aus der Fachschaft die Gewerkschaft der Metaller hervor.

Grundlage ist eine Studie des Historikers Gunther Mai, der den Übergang „quellengesättigt dargelegt“ habe. Sie trägt den Titel „Die Geislinger Metallarbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Volksgemeinschaft 1931–1933/34“. Nach offizieller Geschichtserzählung waren die Gewerkschaften schon am 2. Mai 1933 verboten worden, was formal auch stimmt. Doch es gab eben keine Revolution, keinen Generalstreik. Die Einzelgewerkschaften wurden geräuschlos in die DAF überführt. Götz Aly: „Die Nazis waren nicht dumm: Sie haben die Mitgliedsbeiträge halbiert und haben ihnen die Versicherungen und ihre Ersparnisse gelassen.“ In Geislingen erfolgte die Anpassung „weitgehend konfliktfrei“, so Mai. Er nennt „Anpassungsdruck, Opportunismus und Angst um den Arbeitsplatz“ und „mehr oder minder ausgeprägte Zustimmung“ als Ursachen für den geräuschlosen Übergang.

Götz Aly hat ein Buch vorgelegt, dass in jedem deutschen Haushalt stehen sollte.
Götz Aly hat ein Buch vorgelegt, dass in jedem deutschen Haushalt stehen sollte.Benjamin Pritzkuleit/Berliner Ze

Wie wenig die Gewerkschaften imstande waren, sich auch noch Jahrzehnte später selbstkritisch mit der eigenen Rolle auseinanderzusetzen, zeigt der Umgang mit der Studie von Mai. Aly schreibt: „Kaum hatte Gunther Mai seine fundierte Studie 1984 veröffentlicht, wurde ihm von einem entsprechend engagierten Kollegen vorgeworfen, er betreibe ,Sozialgeschichte in denunziatorischer Absicht‘.“ Die IG Metall in Geislingen gab eine schönfärberische „Dokumentation“ in Auftrag, die gegen die Erkenntnisse Mais gerichtet war. Der Historiker wurde mit seiner profunden, aber eben unangenehmen Recherche „an keiner Stelle zitiert und alles ausgelassen, was dieser anhand des Protokollbuchs des Deutschen Metallarbeiterverbandes dargelegt und nachgewiesen hatte“.

Die IG Metall ging sogar noch einen Schritt weiter. Aly schreibt: „Das Protokollbuch des DMV störte die gewerkschaftseigenen antifaschistischen Heldenerzählungen sehr. Genau deshalb wurde es mittlerweile willentlich oder fahrlässig an einem unbekannten Tag vernichtet.“ Es sei „abhandengekommen“, sagt dazu ein IG-Metall-Funktionär. Zum Glück hatte der Historiker Mai alle für das Jahr 1933 wichtigen Protokolle abgeschrieben.

Aly räumt in dem Buch auch noch mit anderen Märchen auf und untersucht, warum die Nationalsozialisten so leicht in die zivilgesellschaftlichen Bereiche vordringen konnten: „Sie wussten für jede Gruppe, wie sie es machen“, sagt er. Bei den Protestanten fiel es ihnen leicht – seine Ausführungen über die Willfährigkeit und Schleimerei dieser Kirche tragen den Titel „Der protestantische Tanz um das Braune Kalb“. Auch die Katholiken kommen nicht durchweg gut weg, wenngleich Aly diese Gruppe grundlegend besser beurteilt: „Anders als die akademische Jugend, die übergroße Mehrheit der Protestanten und ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft ließ sich die katholische Kirche kaum in das System der Gleichschaltung eingliedern“, schreib Aly.

Götz Aly vor seinem Büro in der Mohrenstraße in Mitte.
Götz Aly vor seinem Büro in der Mohrenstraße in Mitte.Benjamin Pritzkuleit/Berliner Zeitung

Sehr eindringlich erläutert er, welche Taktik die Nationalsozialisten anwandten, um die „Kleriker zu zermürben“ und die „katholischen Milieus“ zu zerstören: Die Kirche hatte sich schon damals in zahlreichen Fällen des sexuellen Missbrauchs an Jugendlichen schuldig gemacht. Dies geschah auch damals in „strafrechtlich verbotener Weise“. Das Regime nutze diesen Umstand und startete die sogenannten „Pfaffenprozesse“ – nicht, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern um die Kirche zu diskreditieren. Die Prozesse wurden teilweise öffentlich geführt: „Angeführt von ihrem Minister (Goebbels) entfalten Dutzende willige Journalisten eine furiose Kampagne.“ Die Zeitungen brachten zahlreiche Berichte über angeklagte und verhaftete Priester und Ordensleute, 1938 wurden die Prozesse beendet.

Aly erläutert, „im unmittelbar bevorstehenden Krieg“ sei es Hitler wichtig gewesen, einen „offenen Konflikt mit der katholischen Kirche zu vermeiden“. 1941 zeigte sich, dass Widerstand möglich war: Der Bischof von Münster, August Graf von Galen, prangerte die gerade laufenden Euthanasiemorde mit „katholisch-fundamentaler Wucht“ an und brachte die grausame Aktion gegen das sogenannte „unwerte Leben“ quasi im Alleingang zum Stillstand. Die Schilderungen der Euthanasiemorde sind in Alys Buch besonders erschütternd – weil er mit eiskalter, chirurgischer Distanz beschreibt, wie ein Kulturvolk dazu gebracht werden konnte, zentrale Werte der Menschlichkeit aufzugeben, ohne das geringste schlechte Gewissen. Mit dem Euthanasie-Programm töteten die Deutschen ihre eigenen Landleute, es war also die Bestialität minus Rassenwahn, ein Art Vorstufe zum Holocaust. Aly zufolge waren die Euthanasie-Morde auch nach innen gerichtet. Doch entmythologisiert der Historiker auch dieses Kapitel in einigen Punkten. Die Tatsache, dass geistig behinderte Menschen in der Regel dem Tod im Gas entkamen, wenn ihre Verwandten regelmäßig nach ihnen fragten, sei nüchtern zu bewerten: „Es ist kein Widerstand, wenn ich jeden Sonntag einen Patienten besuche. Aber es wurden Leben gerettet.“ Und zu den Motiven der Mörder und ihrer Helfer: „Es war keine Ideologie, sondern die damals herrschende wissenschaftliche Lehre, dass man das als Erbgut in sich trägt, es auf die eigene Familie vererben kann.“ Hunderttausende Menschen wurden im Rahmen der sogenannten Operation „T4“ ermordet. Aly schreibt, dass der Widerstand von Bischof Galen ein Beleg dafür sei, was möglich gewesen wäre, wenn Galen nicht allein geblieben wäre, sondern sich die moralische Elite des Landes geschlossen erhoben hätte.

Das Thema Widerstand und Opposition bleibt ein Randaspekt: „Es geht mir um die innere Dynamik“, sagt Aly. Auch die Einflüsse von außen, der mangelnde Widerstand der Westmächte, das Gewährenlassen Hitlers, die Finanzierung, die Blockaden gegen Juden, die in die USA einwandern wollten. So erläutert er: „Es gibt zwei Punkte, an denen eine Intervention geklappt hätte: Da war die wahnsinnige Angst der Nazis, dass sie durch die Unterstützung für Franco zu früh in den Krieg hineingezogen werden, als die Aufrüstung noch nicht fertig war. Und dann die Rheinlandbesetzung mit 30.000 Leuten.“

Die zivile oder militärische Opposition behandelt Aly nicht – und begründet das lapidar: „Das Milieu war marginal, weil es marginalisiert wurde.“ Die „Heftigkeit, die Überwältigung durch Tempo und Unübersichtlichkeit“ habe es der Opposition schwer gemacht. „Mit dieser Führung werden wir nie zur Ruhe kommen“, zitiert Aly einen Tagebuchschreiber: „Immer kam etwas Neues, so ein Element haben Sie auch bei Trump“, sagt Aly. Es ist der einzige aktuelle Vergleich, den er im Gespräch anstellt.

Dass es trotz allem Oppositionsbemühungen gegeben hat, kann man nachlesen etwa bei Hans Rothfels („Die deutsche Opposition gegen Hitler“), Annedore Leber („Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand“), Ruth Andreas-Friedrich („Der Schattenmann“) oder Margret Boveri („Wir lügen alle“).  Aly lächelt milde und sagt, wenn er die Namen der Autoren hört: „Ja, ja!“ Natürlich habe es Todesurteile gegeben, etwa gegen Kommunisten oder in den besetzten Gebieten Österreich, Tschechien, Elsass: „Die wollten keine Deutschen sein, das ist eine andere Art von Widerstand. Mindestens 20.000 deutsche Soldaten seien erschossen worden – mehr als in allen Ländern des Westens, bilanziert Aly mit nüchternen Zahlen.

Abtransport von tschechoslowakischen Kommunisten durch die Nazis.
Abtransport von tschechoslowakischen Kommunisten durch die Nazis.TT/imago

Aly hat strenge Maßstäbe: „Nichtmitmachen ist kein Widerstand.“ Der Akzent seiner Forschung liegt auf den Verführten und den Begünstigten: „Die Schauspieler – alle bestochen; das Gehalt eines Gewerkschaftsführers der DAF lag am Ende über dem Regierungsrat; die Frauen hatten 90 Prozent des letzten Nettolohns, der Alte war bei der Wehrmacht in Vollpension.“ Außerdem habe Hitler alles unterbunden, was ins zivile Leben eingegriffen und die Deutschen verstört hätte. Aly erzählt: „Beamte des Reichsernährungsministeriums haben ausgerechnet, dass die Haustiere das Getreide für sechs Millionen Menschen fressen, die müssen alle weg. Da sagte Hitler: Das darf nicht sein, das verdirbt die Stimmung. Was bleibt übrig? Den Juden werden die Haustiere weggenommen. Das wird heute noch in Kinderbüchern als antisemitischer Akt dargestellt. Es ist aber das einzige, was übrigbleibt von einem größeren Plan.“ Aly interessiert sich nicht für stille Helden, sondern für die Frage, wie Oppositionsströmungen aus Herrschaftsperspektive gesteuert wurden. Anhand der Nennung des Führers in Todesanzeigen entwickelt er eine Art retrospektive Meinungsumfrage. Sie zeigt, dass mit der Wende im Russlandkrieg die Stimmung kippte und Hitler darauf reagierte, indem er die Ermordung der Juden beschleunigte und das Volk zu Mitwissern machte.

Die Verfolgung und Vernichtung der Juden in Europa ist Götz Alys wichtigster Forschungsschwerpunkt über viele Jahrzehnte, siehe sein Buch „Europa gegen die Juden 1880–1945“. Aly wurde von Mainstream-Forschern immer wieder kritisiert, weil er die Raubzugkomponente des Massenmords in den Blickpunkt gerückt hat. Aly lässt diese Kritik kalt, er weiß es buchstäblich besser. So verschränkt er in seinem „Opus magnum“ die rassistische Komponente mit der ökonomischen und erklärt, die Nationalsozialisten seien „eine jugendliche Bewegung“ gewesen. Das war auch den Umständen geschuldet: „Die Lebenszeit hatte sich fast verdoppelt. Es herrschte blühender Fortschritt, alle wollen nach oben. Es gab eine gute Bildungspolitik in der Weimarer Republik – ein Gymnasium in jeder Kreisstadt. Die jungen Leute wollen vorwärtsstürmen – und die Weltwirtschaftskrise hat sie gestoppt.“ Es seien „nicht die sozial Abgehängten und Frustrierten“ gewesen, „sondern die, die nach oben wollten, die mehr erreichen wollten als ihre Eltern“. Die jungen Nazis „waren die ersten, die nicht mit Büchern im Rücken aufgewachsen sind“ und trotzdem auf die Universität drängten. Dort fanden sie viele Juden, die traditionell gebildet waren: „Die Juden waren mehrsprachig, diskursiv, urbanisiert. Ihre Pogrom-Erfahrungen haben sie gelehrt: Bildung ist das einzige, was man uns nicht wegnehmen kann.“ In der Republik wurde der Abstand geringer: „In dem Maß, in dem der Abstand kleiner wird, steigt der Neid und die Lust, den Juden etwas wegzunehmen, was man selbst haben will.“ 1933 wurden in Berlin 1500 Lehrer entlassen. Die sie ersetzt hätten, seien nicht nur Nazis gewesen. Aly hat hinter jeden Namen im Buch die Lebensdaten gesetzt: „Ich wollte zeigen, wie jung die waren.“

Aly nennt noch einen weiteren Grund, dass nämlich der Antisemitismus unter demokratischen Bedingungen wächst: „Man sagt ja, der Antisemitismus kommt aus den schmutzigsten Ecken des Österreichers und des Deutschen. Das stimmt nicht. Metternich war kein Antisemit, die Demokraten in Deutschland waren es. Metternich hat die Rechte der Juden auf dem Wiener Kongress verteidigt, die Deutschen waren von Erst Moritz Arndt über Turnvater Jahn bis hin zum Doktorvater von Karl Marx alle antijüdisch eingestellt.“

Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg seien schlecht gewesen, sagt Aly. Die Staatsmänner von Versailles hätten die Verträge anders gemacht, wenn sie nicht unter dem Druck ihrer Völker gestanden hätten. Sie mussten sich zur Wahl stellen. Der Wiener Kongress habe dagegen gesagt: Keine Reparationen, keine Gebietsabtretungen, wir stellen nur die alte Ordnung wieder her. „Es war einer der ganzen wenigen Friedensschlüsse, wo anschließend nicht Rache- oder Revanchegefühle entstanden sind.“

Die nächste Generation sollte sich mit Regierungssystemen beschäftigen, meint Götz Aly: „Es gibt zwischen Demokratie und Diktatur Systeme, die regelbasiert sind und für den Bürger berechenbar. Es stimmt nicht zu sagen: Auf der einen Seite haben wir die westliche Wertegemeinschaft – die übrigens immer weniger überzeugt! –, und auf der anderen hat man mehr oder weniger böse Autokraten.“

Götz Aly sagt schließlich, die ganze Zeitgeschichte sei „moralistisch verseucht“. Er liest in seiner Freizeit Mediävisten: Die „betrachten mit 500 Jahren Distanz die Menschen wie Käfer, deren Verhalten sie beschreiben. Diese Neutralität müsste man auch für die neuen Stoffe gewinnen.“

Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1944. S. Fischer Verlag, 762 Seiten, 34 Euro. Am 11. September findet im Pfefferberg-Theater die Vorstellung des Buchs mit Klaus Lederer statt.

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