Rock

Der Rammstein-Irrsinn: Wie die Fans nach 0 Uhr Dussmann stürmten

Das neue Rammstein-Album „Zeit“ erschien Freitag um 0 Uhr. Wir stellten uns um Mitternacht bei Dussmann in die Schlange.

Rammstein-Album „Zeit“: Metal-Fans stehen nachts bei Dussmann an.
Rammstein-Album „Zeit“: Metal-Fans stehen nachts bei Dussmann an.Markus Wächter / Waechter

Kurz vor Mitternacht wird es laut vor dem Seiteneingang des Kulturkaufhauses Dussmann in Mitte. „Zehn, neun, acht …“ zählt ein Pulk von Leuten am späten Donnerstagabend den Countdown herunter – bis sich die Türen öffnen und im Laden die ersten Exemplare des neuen Rammstein-Albums verkauft werden.

„Zeit“ heißt es, es ist das achte Album der Berliner Rock-Gigantomanen, und die meisten der rund 200 Fans, die hier anstehen, haben die erste Hörprobe gerade hinter sich: In Berliner Kinos konnte man das Album ein paar Stunden zuvor in dickem Sound vorab hören. Sabine, eine in Berlin lebende Französin um die 30, ist von den neuen Liedern begeistert: „Ich war gerade im Kino und habe das ganze Album gehört. Ich habe schon ein paar neue Lieblingssongs!“, sagt sie. „Ich finde es klasse, wenn Rammstein solche Aktionen macht. Ich habe das Glück, in Berlin zu leben, also gehe ich da hin, klar.“ Als wolle sie beweisen, wie groß ihre Liebe zur Band ist, zeigt sie ein Rammstein-Tattoo auf ihrer Hand.

Der Werberummel ist bei Rammstein-Releases stets immens

Kurz vor dem Verkaufsstart: Rammstein-Artikel bei Dussmann.
Kurz vor dem Verkaufsstart: Rammstein-Artikel bei Dussmann.Markus Wächter / Waechter

Vor allem die internationale Fanbase hat sich heute hier eingefunden: Kolumbianer, Spanier, Amerikaner, und dazwischen Urberliner wie Frank. Der 66-Jährige mit dem buschigen, ergrauten Walross-Schnauzer ist seit 20 Jahren Rammstein-Fan, er findet die PR-Events der Band genial: „Die sind ja marketingmäßig bestens aufgestellt. Und wir Idioten gehen hin und kaufen’s“, sagt er und lacht. In der Tat: Der Werberummel ist – wie bei Rammstein-Releases so oft –immens. Bereits vor drei Wochen eröffnete die Band auf dem Alexanderplatz einen eigenen Kiosk, um die Videopremiere des Tracks „ZickZack“ zu begehen. Der Song bekam sogar ein eigenes, Bravo-artiges Magazin, das die Band samt Single verkaufte.

Aber ist „Zeit“ nun auch das ganze Bohei wert? Nun, Rammstein-Fans werden sicher nicht enttäuscht sein, denn in den elf Songs ist der Sound zu hören, den man von der Gruppe kennt. „Zeit“ ist ein zweigeteiltes Album: Einerseits seziert die Band um Sänger Till Lindemann in düsteren Todesballaden mit langsamen Rockakkorden menschliche Abgründe und Ängste. Im Titeltrack besingt Lindemann etwa die Vergänglichkeit und die Schönheit des Moments: „Zeit/ Bitte, bleib stehen, bleib stehen/ Das soll immer so weitergehen“. Ähnlich finsterrockig kommt das Stück „Schwarz“ daher, darin vermessen Rammstein die dunkle Seite der Seele und das Gefühl der Einsamkeit („Die kalte Nacht ist mir Vergnügen/ Trink das Schwarz in tiefen Zügen“).

Großes Rammstein-Puppentheater

Andererseits finden sich auf dem Album Songs wie „ZickZack“, eine gelungene Satire auf das Gebaren der Schönheitsindustrie. Der Mensch wird hier erst auf dem Operationstisch zum wahren Menschen, zick-zack und schnipp-schnapp wird am Körper rumgefuhrwerkt. „Messer, Tupfer, Vollnarkose/ Sieben Kilo Reiterhose und/ Bauchfett in die Biotonne/ Der Penis sieht jetzt wieder Sonne“, singt Lindemann zu scharfen Metalriffs und Synthiegeplucker.

Großes Rammstein-Puppentheater bietet auch der Videoclip dazu, in dem das Botox-Tuning bei Hauptdarsteller Lindemann leider nicht so recht gelingen will. Solche Anarcho-Trash-Nummern machen schon Spaß. Andererseits muss man auch sagen: Musikalisch und textlich ist das neue Werk an fast keiner Stelle überraschend, neue Facetten der Band sind nicht zu hören.

Und klar, Rammstein wären nicht Rammstein, wenn nicht auch Geschlechtsteile gewürdigt würden. Die Songs „OK“ („Ohne Kondom“) und „Dicke Titten“ besingen das Begehren des heterosexuellen lyrischen Ichs gewohnt plakativ.

Auch hier geht es natürlich satirisch und selbstironisch zu, unterstützt wird dies durch die Machart der Songs: „OK“ wird von einem (Kirchen-?) Chor eingeleitet, in „Dicke Titten“ ist eine Mischung aus Metal und Volksmusik zu hören. Doch wenn man zurückblickt, wie Rammstein Sex und German Porn schon vor vielen Jahren – durchaus gekonnt – persiflierten („Pussy“, 2009), dann lösen diese neuen Songs wohl eher Schulterzucken aus.

Es kann auch einfach ein Marketinggag sein

Was schon eher aufhorchen lässt, ist der letzte Track „Adieu“. „Adieu/ Goodbye/ Auf Wiedersehen/ Den letzten Weg musst du alleine gehen/ Ein letztes Lied/ Ein letzter Kuss/ Kein Wunder wird geschehen (…) Die Zeit mit dir war schön“, singt Lindemann darin in elegischem Duktus, man könnte das Stück also so lesen, dass dies das letzte Rammstein-Album gewesen ist. Doch zum einen hört man im Lied davor („Lügen“) noch, dass dem lyrischen Ich nicht zu trauen sei, und zum anderen sind Rammstein natürlich auch verdammt gut im Bluffen.

Das wissen auch die Fans vor dem Kulturkaufhaus Dussmann. „Es kann auch einfach ein Marketinggag sein, man weiß es nicht“, meint Frank, der nun in den Laden geht, um sich ein Album und ein Plakat mit dem Covermotiv zu sichern. Die Französin Sabine dagegen scheint ob des „Adieu“ etwas alarmierter: „Wenn sie singen ‚Die Zeit mit dir war schön‘, da denkst du schon: scheiße. Das klingt für mich nicht gut. Aber naja, sie sind nicht mehr die Jüngsten, sie haben eine Karriere von fast 30 Jahren hinter sich, es wäre verständlich.“ Also keine Katastrophe, sollten Rammstein sich tatsächlich verabschieden? „Na doch“, sagt sie, „das wäre schon eine Katastrophe. Ich würde heulen ohne Ende.“

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