Der Ravensburger-Verlag, dessen riesiges Programm Kinderbücher und Spiele für jedes Alter umfasst, zieht Bücher aus dem Verkauf zurück. Es geht um einen Lieblingshelden der Deutschen. Die Worte „Winnetou“ und „Verbot“ in einem Satz lösen Reflexe aus, wecken alte Gefühle. Der ehemalige Politiker Sigmar Gabriel twittert, einst wegen Winnetou geweint zu haben. Dies habe ihn ebenso wenig zum Rassisten gemacht wie Tom Sawyer & Huckleberry Finn, schreibt er: „Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder.“ Er informiert nicht darüber, ob er die Ravensburger-Titel bereits erworben hat oder es sich bei ihm zu Hause um Ausgaben der seit 1893 erschienen Romane von Karl May (1842–1912) handelt.
Und so machen viele aufgeregte Reaktionen eine kleine Nachricht zur Riesensache. Während die einen dem Verlag gratulieren, rechtzeitig ein Einsehen gehabt zu haben, rufen andere „Zensur!“ Doch übereilte Reflexe gehören vielleicht zu Twitter und Instagram, doch nicht in den Journalismus. Zusammenfassungen des Vorgangs, die lauten, der Verlag hätte „mehrere Kinderbücher wegen Rassismus-Vorwürfen aus dem Verkauf“ genommen, wie vielerorts zu lesen, übertreiben. Auch die Aussage, es seien Bücher, die dem Film „Der junge Häuptling Winnetou“ „zugrunde liegen und die zum Filmstart neu aufgelegt werden sollten“, ist falsch.
Die Bücher entstanden nach dem Film
Zwei Bücher, ein Puzzle und ein Stickerbuch nimmt Ravensburger aus dem Programm, teilt der Pressesprecher Heinrich Hüntelmann auf Nachfrage mit. Sie alle tragen die Überschrift „Der junge Häuptling Winnetou“. Sie waren nicht die Vorlage zum Film, „es verhält sich andersherum: das Drehbuch des Films wurde zum Lesestoff vertextet. Es sind Lizenztitel, zu denen wir inhaltlich nichts beigetragen haben, somit ,Bücher zum Film‘“.
In der allgemein verschickten Erklärung des Verlags werden die Gründe erläutert: „Auch wenn es sich um einen klassischen Erzählstoff handelt, der viele Menschen begeistert hat: Der Stoff ist weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich erging. Vor diesem Hintergrund wollen wir als Verlag keine verharmlosenden Klischees wiederholen und verbreiten, auch wenn wir den Grundgedanken der Freundschaft – wie bei Winnetou vorhanden – hoch schätzen.“
Der Erfolg der Produkte wäre normalerweise an den Erfolg des Films gekoppelt. Die Idee solcher Titel liegt darin, den Zuschauerkindern das Kinoerlebnis nach Hause zu verlängern. Ravensburger verzichtet auf Einnahmen. Zensur ist das nicht.
Nicht alle Stiefmütter sind böse
Nun kann man dem Verlag vieles entgegenhalten. Zum Beispiel, dass Kinder sehr früh erfahren, dass die Welt in Büchern nicht der Wirklichkeit entspricht. Tiere können nicht reden, bis auf ein paar erlernte Tricks ist Zauberei unmöglich, Drachen hat es leider nie gegeben und Stiefmütter müssen nicht grundsätzlich böse sein. Und auch wenn Kinder eine Zeitlang davon träumen, dass es ihre Buchhelden tatsächlich gibt, schadet es weder den Figuren noch ihnen selbst. Siehe Sigmar Gabriel.
Der Überzeugungscharakter von Filmen wirkt zwar stärker, weil fertige Bilder geliefert werden. Die rührenden Sechzigerjahre-Filme „nach Karl May“ mit dem Franzosen Pierre Brice als fiktiven Häuptling der Mescalero-Apachen gehören zum Bildgedächtnis der heutigen Eltern- und Großelterngeneration. Denen muss man nicht mit dem Schlagwort der kulturellen Aneignung kommen, das gehört in die Debatten der Gegenwart. Es gibt eben immer mehrere Blickwinkel auf eine Sache. Karl Mays Nordamerika beruhte auf seiner Fantasie. Die in der DDR entstandenen Filme nach den Büchern von Liselotte Welskopf-Henrich, angefangen 1966 mit „Die Söhne der großen Bärin“, waren zwar besser recherchiert, aber auch keine Dokumentationen.
Auch im aktuellen Fall sollte man den Kindern vertrauen, dass sie den „Jungen Häuptling Winnetou“ als erfunden verstehen. So trottelig, wie darin gerade die gefährlichen Erwachsenen auftreten, sind sie ja im realen Leben kaum. Dennoch fragt man sich angesichts zahlreicher Klischees, warum überhaupt heute so ein Spielfilm produziert und gefördert wurde? In einer Zeit, da Faschings- und Karnevalskostüme infrage gestellt werden, weil Verkleidungen ja auch Wertungen transportieren und verfestigen. In der Abwägung der Frage, ob der Film rassistisch sei oder eine fantastische Geschichte erzähle, hat sich offenbar die Antwort zugunsten der Fantasie und der Kunst durchgesetzt – was nicht jeden befriedigt.
Die verschleppten Kinder
In welcher Weise Native Americans unter der weißen Herrschaft noch im 20. Jahrhundert litten, war eines der Themen auf der Frankfurter Buchmesse 2021, als Kanada sich als Gastland repräsentierte. Massenhaft wurden Kinder in Heime verfrachtet, angeblich, um ihnen dort europäische Kultur und Bildung beizubringen. Tausende starben. Jetzt erst werden deren Geschichten gehört. Im großen Kulturprogramm der Buchmesse trat auch ein Mann mit Schmuck, bestickter Jacke und Fransenhose auf. Das war Dallas Arcand, der zur Alexander First Nation gehört, dem indigenen Volk der Kipohtakaw. Er trug die traditionelle Kleidung seiner Vorväter. Wer Film- oder Faschingskostüme in der Art schneidert, muss sich heute fragen lassen, wie es gemeint ist.

