Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow ist erst vor ein paar Tagen in Berlin angekommen. Wir treffen uns zum Gespräch im Deutschen Theater. Er spricht gut Englisch, aber er bringt jemanden mit, der dolmetschen kann. Das sei der Moment, in dem jedes Wort schmerzhaft oder wichtig sein könne, sagt er.
Gerade haben die Nachrichtenagenturen gemeldet, dass Ihr Stück „Der schwarze Mönch“ im Juli das Festival von Avignon eröffnen wird. Sie sind also von dem Boykott gegen russische Künstler, zu dem die Ukraine aufruft, nicht betroffen?
Ich verstehe, warum es jetzt diese Diskussion um den Boykott russischer Künstler und russischer Kultur gibt. Aber ich unterhalte mich in den sozialen Netzwerken mit vielen Ukrainern, und sie sprechen nicht unbedingt von Boykott, sondern eher von einer Pause. Und es ist eigentlich auch unmöglich, eine ganze Kultur zu boykottieren, sie auszuschließen. Man kann nicht Musik verbieten, man kann den Menschen nicht verbieten zu denken, Lieder zu singen oder etwas auszusprechen, auszudrücken in ihrer Muttersprache. Und wenn man schon ausschließt, dann sollte man danach gehen, wer was macht, wie wer handelt, ob er den Krieg unterstützt oder nicht, und nicht danach, welche Nationalität er hat.
Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?
Weil ich Aufträge habe, nicht nur in Deutschland, wo ich an Projekten im Deutschen Theater Berlin und dem Thalia-Theater in Hamburg arbeite. In Paris und in Amsterdam werde ich Opern inszenieren.
Sind Sie froh, jetzt hier sein zu können?
Ich liebe Berlin, es ist mein Zuhause geworden. Aber alles, was jetzt in Russland und in der Ukraine geschieht, ist für mich eine absolut tragische Geschichte. Viele meiner Kollegen und Freunde versuchen jetzt auszureisen oder sind schon weg, andere sind wegen des Kriegs in eine tiefe Depression gefallen. Ich habe das Privileg, hier in Europa Arbeit zu haben. Viele fahren ins Nichts. Ich höre in Berlin auf der Straße jetzt viel Russisch. Das sind nicht nur Ukrainer, sondern auch Russen, die wegen des Kriegs ihr Land verlassen haben.

Wie wird dieser Exodus Russland verändern?
Dieser Krieg, an dessen Möglichkeit weder ich noch einer meiner Freunde geglaubt haben, wird für uns alle viel Zerstörung bringen. Er zerstört unsere Schicksale, unsere Leben – auch wenn das nicht vergleichbar ist mit dem, was in der Ukraine passiert, wo die Städte zerstört werden, wo Menschen umgebracht werden. Die Ukrainer werden ihr Land wieder aufbauen, sie werden als Nation einig sein. Und die ganze Welt hilft ihnen. Aber die Russen erwartet nichts als Grauen und Schmerz, wenn sie das Ausmaß dessen erkennen, was passiert ist. Ich bin noch in der Sowjetunion geboren und mit dem Motto „Frieden für die Welt“ aufgewachsen. Mit dem „niemals wieder“. Dass es nie wieder Krieg geben dürfe, haben alle ständig wiederholt. Meine Eltern, meine Lehrer. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man im 21. Jahrhundert einen Krieg beginnen kann. Meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater ist Jude, deshalb nehme ich das, was in der Ukraine passiert, sehr persönlich. Für mich als Künstler, als Buddhist ist die Vorstellung, dass man andere Menschen umbringt, grauenhaft. Ein Krieg darf einfach nicht begonnen werden, und für mich ist es so tragisch, dass Russland diesen Krieg begonnen hat.
Sie sprechen von Krieg. In Russland ist dieses Wort in der Öffentlichkeit bei Strafe verboten. Wollen Sie nicht zurück nach Moskau?
Das erste, das im Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Deshalb muss man sich an dem orientieren, was man selbst fühlt, was man selbst versteht. Und natürlich ist das ein Krieg, ein verbrecherischer, grauenhafter Krieg. Und Moskau – ich möchte nicht sagen, dass ich nie zurückkehren werde. Das Leben ist sehr schwer vorherzusagen. Ich lebe schon seit langer Zeit von einem Tag auf den anderen. Und jetzt ist es ganz unmöglich, langfristige Pläne zu schmieden.
Das klingt so, als seien Sie für unbestimmte Zeit hier.
Schauen Sie, ich habe überhaupt keine Arbeit in Russland, keinerlei Aufträge. Das wurde so absichtlich arrangiert, dass ich in Russland nicht arbeiten kann. Aus Russland wurde ich konsequent vertrieben.
Wollen Sie damit sagen, dass man darauf spekuliert hat, dass Sie das Land verlassen?
Ich möchte nicht über „man“ sprechen. Ich weiß nicht, was „man“ für Pläne für mich hat. Offensichtlich keine guten. Für mich ist meine Arbeit mein Zuhause. Ich bin dort, wo ich Arbeit habe, sie ist der Sinn meines Lebens. Darüber nachzudenken, wer einen hasst, wer einen liebt – das raubt einem nur Kraft.
Was ist mit Ihrer Familie in Russland?
Mein Vater lebt in Rostow am Don. Er ist fast 90, und ich rufe ihn zweimal am Tag an. Ich mache mir Sorgen, denn Rostow am Don ist nicht weit von der Front entfernt.
Wie war es zuletzt in Moskau, hat man den Krieg dort gespürt?
Ich habe das als kognitive Dissonanz erlebt. Der Krieg begann, aber das Leben ging weiter. Die Menschen saßen in den Restaurants. Manche sind auch mit Antikriegsplakaten auf die Straße gegangen, aber für jeden Einzelnen kamen zehnmal so viele Schwarzgekleidete mit Helmen und Knüppeln und haben sie festgenommen. Es sieht tatsächlich so aus, als würde die große Mehrheit der Russen das, was in der Ukraine geschieht, unterstützen. Sie glauben, dass die Ukraine „entnazifiziert“ werden soll, oder dass „so ein Land nicht existiert“ und auch alles andere, was im Fernsehen gesagt wird.
Sie glauben also dem Narrativ der Regierung.
Mit diesem schönen Wort Narrativ, das wir auch manchmal im Theater benutzen, würde ich das nicht bezeichnen. Es ist aggressive und verbrecherische Propaganda.
Wie kann dieser Krieg enden?
Ich bin da ziemlich pessimistisch. Ein Krieg ist leicht zu beginnen, aber schwer zu beenden. Und selbst wenn der bewaffnete Konflikt endet, geht der Krieg im Inneren noch lange weiter. Es wird für Russen und auch für alle anderen Menschen nötig sein, diesen Krieg aus ihren Herzen zu vertreiben. Das versteht man in Deutschland gut. Aber für die Deutschen war es damals leichter, weil sie den Krieg verloren haben. Es gab diesen Schock, diesen Albtraum der Niederlage, als sie die Opfer von Auschwitz mit ihren eigenen Händen begraben mussten. Trotzdem haben die Deutschen dafür 50 Jahre gebraucht. Aber in Russland wird das Ende dieses bewaffneten Konflikts als ein Sieg dargestellt werden, obwohl es Sieg im Krieg meiner Meinung nach gar nicht geben kann. Ich frage mich, wie anschließend Europa funktionieren wird, wie die Kultur funktionieren wird? Wird die Welt aus Boykotten, aus Verboten, aus neuen Berliner Mauern bestehen? Wird man weiter mit dieser Angst und dem Hass leben?
Es ist widersinnig, dass das Land, das diesen Krieg damals beendet hat, oder mitgeholfen hat, ihn zu beenden, einen neuen Krieg beginnt.
Für mich ist eben das genau die schlimmste Tragödie. Auch eine persönliche Tragödie. Und ich weiß nicht, wie ich damit weiterleben soll.
Wie wird sich das auf Ihre Kunst auswirken?
Dieser Krieg wird mein ganzes Leben beeinflussen, und auch das Leben von uns allen. Gerade habe ich die Möglichkeit hier zu arbeiten, doch wie es weitergeht, wo ich leben werde, weiß ich nicht. Aber was die Kunst angeht, weiß ich genau, worüber ich sprechen werde. Ich werde die Menschen daran erinnern, dass Menschen nicht Menschen töten sollen. Russland war immer in der russischen Literatur zu finden, wo die Erniedrigten und Beleidigten geschätzt und gewürdigt wurden. Sogar Verbrecher fanden dort Mitgefühl, etwa in „Schuld und Sühne“. Aber jetzt befindet sich dieses Land in einem Stück von Shakespeare.
In welchem denn?
In dem blutigsten.
Sie haben mit Ihrer Arbeit 30 Jahre lang die russische Kultur in einem europäischen Kontext verankert, Sie haben russische Geschichte aufgearbeitet. Ist das jetzt alles vorbei?
Ich liebe Russland sehr. Das Russland der Kultur, der Wissenschaft, der Denker, das Russland, das im Austausch mit der europäischen Kultur steht. Das Russland, das baut und nicht zerstört. Das Russland, das freundlich ist. Ich glaube fest daran, dass Russland dazu fähig ist. Die Idee von diesem Russland werde ich vertreten.
