Interview

Dramatiker Artur Solomonov: „Für den russischen Staat ist der Mensch ein Baustoff“

Der russische Dramatiker Artur Solomonov im Interview über sein Land und sein Stück „Wie wir Josef Stalin beerdigten“, das nun nach Berlin kommt.

Schauspieler im Theaterstück: Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurde die Aufführung aus vielen Theatern in Russland verbannt.
Schauspieler im Theaterstück: Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wurde die Aufführung aus vielen Theatern in Russland verbannt.Theater.Doc's Archiv

Josef Stalin schickte Millionen zur Hinrichtung und in die von ihm geschaffenen Gulags. Siebzig Jahre nach dem Tod des Diktators werden ihm in Russland erneut Denkmäler errichtet. Wolgograd unterbreitet hartnäckig das Angebot, sich wieder in Stalingrad umzubenennen. Der Journalist und Dramatiker Artur Solomonov (47) verließ 2018 Russland in Richtung Israel. Er ist der Autor eines Theaterstücks, das die Frage nach der Rückkehr des schrecklichen Erbes von Josef Stalin stellt. Solomonov hat sich immer wieder deutlich zur Antikriegsposition geäußert.


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„Wie wir Josef Stalin beerdigten“ ist ein Stück über ein Stück

Der Handlung zufolge will ein großes russisches Theater eine Inszenierung zeigen, die Stalin und vor allem sein Gefolge lächerlich machen würde. Durch Zufall wird Russlands Präsident der erste Zuschauer. Sein Name wird im Stück nicht genannt, aber diese Person ist nicht begeistert von dem, was sie auf der Bühne sieht. Nun beginnt die Theatertruppe fieberhaft, die Produktion zu ändern. Und niemand merkt, wie sehr bald das Theater selbst zum Modell des stalinistischen Totalitarismus wird.


Herr Solomonov, läuft Ihr Stück noch in Russland?

Auf völlig unerklärliche Weise läuft das Stück in Moskau auf der Bühne des nichtstaatlichen Theater.Doc. Jedoch fiel die Premiere mit dem Beginn des Krieges zusammen. Alle Beteiligten – die Schauspieler, der Regisseur, die Theaterleitung – waren schockiert, deprimiert, verwirrt. In diesem Moment war nicht klar, ob es moralisch richtig wäre, die Premiere stattfinden zu lassen. Wir entschieden uns, zu spielen. Am Tag der Premiere war der Saal gefüllt mit dem traurigsten Publikum, das ich je gesehen habe. Als die Aufführung zu Ende war, sprachen Zuschauer die Schauspieler an und sagten, sie seien schockiert gewesen, als sie von der Bühne hörten: „Der Staat braucht Leichen! Er will die Toten! Der Mensch ist nichts, der Staat ist alles!“ – Diese Sätze waren nicht die wichtigsten im Stück, als wir mit den Proben begannen. Aber das Leben selbst hat diese schrecklichen Akzente gesetzt. Ohne Übertreibung betrachte ich alle als Helden, die weiterhin in dieser und anderen Aufführungen des Theater.Doc auftreten. Jetzt ist es für sie viel schwieriger zu arbeiten als für uns, die außerhalb Russlands sind.

Artur Solomonov
Artur SolomonovMarat Mullyev
Artur Solomonov
Artur Solomonov, geboren 1976 in Chabarovsk, Russland, ist Schriftsteller, Journalist, Dramatiker und Theaterkritiker. Seit 2018 lebt er in Israel. Zuvor studierte er in Moskau Theaterwissenschaft, verbrachte ein Jahr in Berlin und studierte deutsches Theater. Nach seiner Rückkehr nach Moskau arbeitete Solomonov als Theaterkritiker. Er spielte zudem Theater und ist Autor des  Romans „A Theatrical Story“. Solomonov verfasste das umstrittene politische Theaterstück „Gottes Gnade“ und erhielt dafür auf der 8. Biennale in London einen der Hauptpreise.

Ist das Stück noch anderswo aufgeführt worden?

Bis vor kurzem wurde es im Ural aufgeführt, in Tscheljabinsk. Dort fand die Premiere im Februar 2021 statt, aber schon davor gab es Probleme. Anhänger des „Vaters der Völker“ kamen mit Plakaten zum Tscheljabinsker Kammertheater, auf denen stand: „Hände weg von Stalin!“ Sie schrieben Protestbriefe an die Staatsanwaltschaft, den russischen Geheimdienst FSB und die Präsidialadministration. Die Aufführung wurde dennoch im Repertoire gehalten, mit konstant vollem Haus. Daran ist nichts Überraschendes, denn die Proteste der Stalinisten verschafften dem Stück eine kolossale Öffentlichkeit. Die Zuschauer verstanden, dass die Aufführung verboten werden könnte, und hatten es eilig, sie zu sehen. Die Stalinisten und ihre Aktionen, in die sich die Behörden übrigens in keiner Weise einmischten, wurden zu einer großartigen Ergänzung der Aufführung. Schade, dass das Stück im Ural den Krieg und die Militärzensur nicht überstanden hat: Jetzt ist es trotz des Erfolgs und der Nachfrage nicht mehr im Repertoire.

Der Untertitel Ihres Stücks lautet: „Ein Stück über Flexibilität und Unsterblichkeit.“ Warum?

Stalin beantwortete die Frage, was wichtiger sein, ein Mensch oder ein Staat, eindeutig. Er machte eine solche „süße“ Arithmetik akzeptabel. Diese schreckliche Gleichung, bei der Millionen von getöteten, gefolterten, zu Sklaven gemachten Menschen auf der einen Seite stehen, und auf der anderen Eroberung und der große militärische Sieg. Wir sehen, wie diese teuflische Logik „Die Toten werden gebraucht“ heute wieder gewinnt. Für den russischen Staat ist der Mensch ein Baustoff, und aus Millionen von Leichen und verkrüppelten Schicksalen wird ein kolossales Staatsgebäude errichtet. In meinem Stück hat der Präsident, mit dessen Eingriff in den Theaterprozess alles begann, keinen Namen. Man kann nicht sagen, dass dies Putin ist. Aber hier wird die Verbindung zwischen Putinismus und Stalinismus gezeigt, der Mechanismus der Entstehung eines Tyrannen zusammen mit seinen unheimlichen Dienern.

Gab es eine Möglichkeit, dies zu vermeiden?

Wenn Russland seine eigenen „Nürnberger Prozesse“ über das kommunistische Regime und seine blutigste Komponente – den Stalinismus – gehabt hätte. Aber nach der Perestroika entschieden sie, dass es möglich sei, in die Zukunft zu gehen, ohne sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jetzt entwirren wir alle die katastrophalen Folgen dieses Fehlers. Da die russische Gesellschaft keine Arbeit geleistet hat, um ihre Vergangenheit zu verstehen, ist sie laut des offiziellen Narratives in unserem Land außergewöhnlich heldenhaft und hell geblieben. Wir sind schön und unfehlbar. Alle unsere Kriege sind nur Befreiungskriege, und unsere Soldaten sind ein Beispiel für Mut und Freundlichkeit. Nun ja, es gab einige „Fehler“, aber wer hatte das nicht? Daher war zu Stalins Zeiten im Allgemeinen alles fair: Die Gesellschaft wurde von inneren Feinden gesäubert, vielleicht mit einigen „Exzessen vor Ort“. All diese kindliche, fast schwachsinnige Freude an sich selbst – abgesehen davon, dass sie von einem titanischen Minderwertigkeitskomplex zeugt – sorgt dafür, dass die Vergangenheit mit all ihren Albträumen noch vor uns liegt. Und die Reise durch die blutigsten Seiten dieser Vergangenheit beginnt gerade erst.

Ist dies ausschließlich eine russische Krankheit?

Die Sehnsucht nach einem Diktator, die panische Angst vor einer globalen, komplizierten Welt ist nicht nur für das moderne Russland charakteristisch. Viele sind von der Demokratie enttäuscht. Es ist nur so, dass diese  Enttäuschung in Russland äußerst groteske, absurde, erschreckende Formen angenommen hat. Aber ich sah Publikumsreaktionen auf Aufführungen und Theaterlesungen in Moskau, Jekaterinburg, Tscheljabinsk, Archangelsk und anderen russischen Städten. Das Publikum war zunächst schockiert: Ist es erlaubt? Und dann fingen alle an zu lachen, auch über ihre ursprüngliche Angst. Unwillkürlich denkt man: Vielleicht wird uns diese Ehrfurcht vor allen auferlegt, die auf dem Stuhl des Chefs sitzen, sei es auf einem Thron oder einem kleinen, schäbigen Sessel. Wir haben nie versucht, ohne „feste Hand“ zu leben – die kurze Zeit am Ende des letzten Jahrhunderts verging fast spurlos.

Wie wird bei Ihnen der Stalinismus behandelt?

Ich biete ein Rezept zur Heilung durch Lachen an. Gerade das Genre der tragischen Farce macht es möglich, zu zeigen, wie lächerlich und absurd unsere uralte Bewunderung für die Mächtigen, für große und kleine Bosse ist. Lachen entheiligt alles, was es berührt. Deshalb ist es jetzt, wo alles so tragisch ernst ist, und wir vor den Symbolen unserer Vergangenheit und Gegenwart knien sollen, so wichtig, mit Lachen zu widerstehen.

Wie wir Josef Stalin beerdigten. 10. Juni, 19.30 Uhr, Theater im Palais. Eine Spendensammlung für ukrainische Flüchtlinge und Opfer der russischen Aggression in der Ukraine findet statt.