Linguistik

Das Gendern gefährdet unser höchstes Kulturgut: Deutsch als einheitliche Sprache

Gegenderte Sprache möchte, dass wir Sprachliches zugunsten von Nichtsprachlichem aufgeben, sagt der Berliner Linguist Peter Eisenberg.

Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg
Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenbergdpa/Britta Pedersen

Gegenderte Sprachformen verbreiten sich. Wir wissen nicht viel darüber, wie das innerhalb der Sprachgemeinschaft im Einzelnen aufgenommen und bewertet wird. Wir wissen aber doch, dass eine erdrückende Mehrheit der Sprecher des Deutschen gegenderte Formen ablehnt. Kopfschüttelnd und achselzuckend steht sie vor ihrer Hilflosigkeit. Aber: Wenn man im Augenblick nicht weiß, was man tun kann, wird es umso wichtiger, eine Perspektive zu entwickeln: Wie kann es weitergehen, wie kann der dumpfe Stillstand überwunden werden?

Die Soziologen Armin Nassehi und Irmhild Saake von der Münchner LMU wollen eine Perspektive entwickeln. In einem instruktiven Artikel in der FAZ erinnern sie an den Beginn eines Diskurses in der amerikanischen Psychiatrie mit dem sogenannten Doctor-Nurse-Game. Der (männliche) Arzt verfügt über ein anderes Wissen als die (weibliche) Krankenschwester, ist aber auf deren Wissen aus der größeren Nähe zu Patienten angewiesen. Die Lösung des Geschlechterkonflikts besteht darin, dass beiderlei ‚geschlechtsspezifisches‘ Wissen ohne öffentliche Sichtbarkeit ausgetauscht wird. Daraus ergibt sich letztlich die Perspektive für eine Beilegung des Geschlechterkampfes. Man tauscht sich aus und hilft sich, ohne die Unterschiede zu beseitigen oder auch nur wegzureden.

In der deutschen Medizin sind gegenwärtig etwa 500.000 Ärzte und fünf Millionen Pflegekräfte tätig, unter ihnen rund 200.000 Ärztinnen und 1,3 Millionen männliche Pfleger. Für unsere Medizin ist das Doctor-Nurse-Game offensichtlich obsolet. Besonderes Gewicht gewinnt der Artikel von Nassehi und Saake jedoch dadurch, dass sie dieses Faktum in Rechnung stellen und über Bereiche sprechen, in denen eine Geschlechtsspezifik nach wie vor besteht oder gerade nicht besteht. Ersteres ist der Fall, wo Frauen während der Pandemie die Doppelrolle als Mütter und Hauslehrer (Homeschooling) zu spielen hatten, gespielt haben und noch spielen, weil das von ihnen erwartet wird und sie über entsprechende Kompetenzen verfügen. Weitgehende Geschlechtsunabhängigkeit wird im Verhältnis von Kurativmedizin und Palliativmedizin erreicht. Hier wurden Arbeitsformen entwickelt, die Lebenserhaltung und das Recht auf Sterben nicht gegeneinander ausspielen.

Frauen versuchen Sprachvorschriften zu etablieren

Eben dies ist für die beiden Soziologen ein Weg zur Überwindung unproduktiver Geschlechterkämpfe. Sie kommen vergleichsweise ausführlich und explizit auf sprachliches Gendern zu sprechen, um zu erklären, „was die Genderstudies und ihre Kritiker noch nicht können“. Was tun die Genderstudies und ihre Kritiker stattdessen? Die einen, das sind die Genderwilligen, wollen Gendersensibilität besonders bei Männern erreichen, indem sie Männern vorschreiben, was sie sagen sollen. Und die Genderunwilligen (meistens Männer) reagieren darauf mit Grammatik und indem sie die Frauen als Sprachpolizei lächerlich machen.

Zunächst zu den Frauen, die das Gendern wollen: Indem sie bestimmte Sprachmuster als männlich hinstellen und bekämpfen, lassen sie sich auf die traditionelle Rolle der Krankenschwester ein. Aber nicht, indem sie unauffällig und kompetent ein geschlechtsspezifisches Wissen entwickeln und in die Berufspraxis einbringen, sondern indem sie versuchen, Sprachvorschriften zu etablieren. Und das durchaus nicht ohne Erfolg. Gerade Disziplinen wie die Medizin zeigen, dass ein gewachsener Einfluss von Frauen nicht zu mehr Distanz und Kooperation, sondern zur Forderung nach immer mehr Sichtbarkeit führt. Gegenderte Sprache mit Wörtern wie Ärztinnenausweis, Ärztinnenpraxis, Ärztinnenmangel, Ärztinnenschaft oder auch Ärztinnenhelfer*innen sind nicht Ausdruck eines Willens zum Ausgleich, sondern sie sind Anzeichen für einen gewachsenen Einfluss von Medizinerinnen, auch wenn die Verhaltensgeste selbst subaltern bleibt. Sie muss ja voraussetzen, dass in der Männersprache männliche Macht codiert ist und bekämpft werden muss. Sie geht einher mit der Unterstellung, Frauen seien nach wie vor benachteiligt (was vielleicht für die Gruppe der Chefärzte, aber generell sicher nicht mehr zutrifft). Das Gendern bleibt nicht ein Geschlechterspiel, sondern es entwickelt sich mit wachsendem Einfluss von Frauen mehr und mehr zum Geschlechterspiel als Machtspiel.

Damit steht die Medizin keineswegs allein. Dieselben Bewegungen sind in vielen Bereichen und Institutionen zu beobachten, von Kanzleien über Redaktionen, Lehrerkollegien, Instituten jeder Art bis zu Industriebetrieben.

Gegenderte Sprache wurde lange als Marotte verstanden

Die Forderung von Nassehi und Saake, dringend nötig sei die Sichtbarkeit von Frauen in Kontexten, in denen man sowohl ihr Geschlecht als auch ihre Kompetenz sieht, ist ebenso richtig wie weitgehend erfüllt. Die Mehrheit der Professorenschaft in der Germanistik (wo der Genderdiskurs vergleichsweise intensiv geführt wird) ist weiblich, die weit über zweihundert Genderprofessuren sind zu über neunzig Prozent mit Frauen besetzt, und eine riesige, unbekannte Zahl von weiblichen Gleichstellungsbeauftragten, die meist nicht viel von Sprache verstehen, verfasst Ratgeber für Ratgeber sowie Richtlinie für Richtlinie, wie man sich in Verwaltungen ‚geschlechtergerecht‘ auszudrücken habe.

Und die Kritiker des Sprachgenderns (meist Männer)? Sie haben versäumt, sich rechtzeitig und gründlich mit sprachlicher Aufmerksamkeit Frauen und geschlechtlich nichtbinär orientierten Personen gegenüber zu befassen und die durchaus existierenden Empfehlungen für mehr Aufmerksamkeit zu praktizieren. Gegenderte Sprache wurde lange als marginal und als Marotte verstanden, die sich totlaufen und von allein verschwinden werde. Daran bestehen inzwischen doch gewisse Zweifel. Es stellt sich das Gefühl ein, der Zug sei abgefahren.

Sind die Männer in der Position der Ärzte im traditionellen Doctor-Nurse-Game? Nassehi und Saake halten ihnen vor, ihre Aktivitäten im Genderdiskurs beschränkten sich auf Grammatik und den Vorwurf der Sprachpolizei. Der ist allerdings selten. Man braucht ihn auch nicht, sondern kann sich getrost an Nassehis und Saakes Formulierung halten, Frauen versuchten, Männern ihr Handeln in einem offenen Diktat zu bestimmen.

Wenn Grammatiker gegenderten Formen zu Leibe rücken, geht es nicht um Grammatik

Bleibt als Vorhalt, Männer beteiligten sich am Diskurs mit Grammatik. Der Begriff Grammatik ist weitgehend negativ konnotiert und führt zu Formulierungen wie „Männer halten sich an ihren Grammatikbüchern fest“ (Die Zeit). Unter Grammatiken stellt man sich Ansammlungen von Flexionstabellen, normativen Behauptungen und kleinlichen Rechthabereien vor. Bei allem Verständnis dafür, dass mancher Grammatiken meidet wie der Teufel das Weihwasser: So etwas ist Schnee mindestens von vorgestern.

Die jüngere Grammatikografie arbeitet korpusbasiert, d. h. sie gründet ihre Aussagen auf dem, was tatsächlich gesprochen oder geschrieben wird. Ihr ist früh und gründlich eingeschrieben, was unter Digital Humanities firmiert. Die Frage ist für den Grammatiker nicht, ob es Anfang dieses Jahres oder Anfang diesen Jahres heißt, sondern unter welchen Bedingungen jede der beiden Formen verwendet wird und warum sie gerade so und nicht anders gebraucht werden. In einem Satz: Moderne Grammatikschreibung expliziert die sprachliche Form und geht ihrer Funktion nach. Was sie beschreibt, versucht sie in einem ganz schlichten, meinetwegen konventionellen Sinn zu erklären.

Wenn Grammatiker gegenderten Formen zu Leibe rücken, geht es nicht um Grammatik, sondern es geht um Sprache. Ohne grammatische Begriffe kann man gar nicht präzise und konkret verständlich über Sprache reden. Gegenderte Sprache möchte uns nicht einen bestimmten Sprachgebrauch vorschreiben, sondern sie möchte erreichen, dass wir Sprachliches zugunsten von Nichtsprachlichem wie dem Genderstern aufgeben. Wir Grammatiker verteidigen in diesem Zusammenhang nicht uns selbst oder unsere Privilegien, sondern wir verteidigen das höchste soziale und politische Kulturgut, das wir haben. Es hat viele Jahrhunderte gedauert, bis das Deutsche eine einheitliche, im gesamten Sprachgebiet verständliche Sprache erreicht hatte. Was ihr Verlust bedeuten würde, steht als Menetekel jedem, der es wissen will, vor Augen und Ohren.

Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg, geboren 1940 in Strausberg, ist Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung. Bis 2005 war er Professor für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam. Sein 1986 veröffentlichter „Grundriss der deutschen Grammatik“ ist ein Standardwerk. Er ist Träger des Konrad-Duden-Preises und des Jacob-Grimm-Preises Deutsche Sprache