Es gibt Tage, an denen wünschte ich, es würde keine Nachrichten geben und mich würde nur betreffen, was ich vor meinen eigenen Augen sehe. Das ist in Berlin auf einem üblichen Arbeitsweg durch die Stadt schon ausreichend viel. Letztens in der Ringbahn schlug neben mir eine Mittzwanzigerin ihren fünfjährigen Sohn mit der Faust in die Seite „Ich schmeiß dich aus dem Fenster, wenn du nicht aufhörst, du Scheißgör“ – und das hörte sich durchaus ernst gemeint an. Sie zerrte ihn am Arm aus der Tür, und ich taumelte sprachlos hinterher.
Und obendrauf dann eben noch Nachrichten. Ich erfuhr also eher unfreiwillig, was am anderen Ende dieser Stadt passiert. In Gatow haben mehrere Jugendliche ihren Vater erschossen. Haben nicht gerade erst ein paar jugendliche Mädchen eine Gleichaltrige in den Wald gelockt und getötet? Und der Jugendliche, der die Klassenkameradin gezielt erstochen hat im Norden Berlins? Die Täter sind im Alter meiner Kinder.
Jeder Einzelfall ist so erschütternd, dass ich mich selbst daran erinnern muss: Die Zahl der vorsätzlichen Tötungsdelikte hat seit 1993 um 63 Prozent abgenommen. Schwere Gewalt an Schulen? Zwischen 1997 und 2018 ein Rückgang um fast 69 Prozent. Im langfristigen Trend sind alle schweren Gewaltdelikte in unserer Gesellschaft viel seltener geworden (laut einer Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer aus dem Jahr 2018). In den 1970er- und 1980er-Jahren war es sehr viel gefährlicher in diesem Land. Und auch die Zahl jugendlicher und kindlicher Tatverdächtiger in Bezug auf Gewaltdelikte ist seit 2019 nach Forschungsergebnissen der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendgewaltprävention am Deutschen Jugendinstitut stetig zurückgegangen.
Die Kindheit im Fokus
Ich habe es in meinem Berufsleben immer vermieden, jugendliche Straftäter zu behandeln. Es war mir zu nahe. Dummerweise hatten aber alle meine erwachsenen Patienten, die schwere Gewalttaten begangen haben, eine Kindheit, und darum ließ sich diese Lebensphase nicht umgehen. Im Gegenteil, sie drängte sich regelmäßig in den Fokus der Therapie. Diese Täter, die schwer oder bereits in ihrer Kindheit gewalttätig waren, waren allesamt ihrerseits Opfer.
Ich erinnere mich an Herrn Schulte*, der jede Nacht von seinem besoffenen Vater aus dem Bett geprügelt wurde, bevor er ihn erschlug. Ich erinnere mich an Herrn Beck, der zu Hause über Jahre eingesperrt, beschimpft und bespuckt wurde, bevor er Amok lief. An Herrn Müller, den Frauenmörder, den seine Mutter mit kochendem Wasser übergossen hatte. Ich erinnere mich an Frau Graz, deren Vater zur Strafe dem Hund das Genick brach vor ihren Augen, Jahre bevor sie mit ihrem Kind dasselbe tat. Und wer will über den zwölfjährigen Jungen richten, der seinen achtjährigen Bruder sexuell missbraucht? In einer Familie, in der eigentlich jeder jeden instrumentalisiert und missbraucht hat?
Gewalt hat als Phänomen komplexe Ursachen. Schnell macht man sich der Sünde der fahrlässigen Vereinfachung schuldig. Es spielen situative Auslöser eine Rolle, manchmal hört jemand befehlende Stimmen in der Psychose. Aber eines kann aus der Forschung doch sicher gesagt werden: Zum Gewalttäter wird man nicht geboren, sondern gemacht. 60 Prozent der Jungen und 40 Prozent der Mädchen, die schwere anhaltende Gewalterfahrung innerhalb ihrer Familie erleben, werden später selbst gewalttätig. Eigene Opfererfahrung ist einer der großen Risikofaktoren für spätere Gewaltanwendung. Denn Gewalt erzeugt Gewalt.
Aggression und Affekt
Der Kern der Opfererfahrung besteht in der Erfahrung von Ohnmacht, der Erfahrung des Ausgeliefertseins an einen übermächtigen anderen Menschen. Und dieser Mensch kann auch der Vater oder die Lehrerin sein. Ausweglose Ohnmacht wird, wenigstens für den Moment, durch aggressives Verhalten gelindert. Jeder, der schon einmal einen anderen Menschen wütend angebrüllt hat, weiß, dass es funktioniert. Leider.
Normalerweise wird kein junger Mensch, der auch nur unter annähernd freundlichen und fairen Bedingungen aufwächst, jemand anderen quälen oder töten. Das besondere Drama kindlicher und jugendlicher Gewalt besteht darin, dass es auf allen Seiten nur Opfer gibt. Die Erwachsenen, die diese Kinder und Jugendlichen aufgezogen haben, müssen sich nach ihrer eigenen Gewalttätigkeit fragen lassen. Schule und Jugendamt müssen sich fragen lassen, warum sie diese Kinder nicht geschützt haben. Gewalt ist ein systemisches Problem. Es hat viele Beteiligte. Die Gesellschaft muss sich fragen lassen. Wir müssen uns fragen lassen. Wie schützen wir Kinder vor Gewalt? Damit sie nicht zu Tätern werden?
Und hier geht es nicht nur um körperliche und sexuelle Gewalt. Es geht auch um systematische Demütigung, Entwürdigung und Bestrafung von Kindern, von abhängigen Menschen. Es geht auch um psychische Gewalt durch Erziehungspersonen und durch Autoritäten. Allzu oft können unterbesetzte Jugendämter nicht einmal nach blauen Flecken suchen. Allzu oft können überlastete Lehrerinnen nur wegschauen. Allzu oft wissen wir selbst nicht, was wir tun können.




