Musik

Daniel Barenboim: Ein Bruch – na und?

Mit seinem Abschied als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden zeigt Daniel Barenboim: Wahre Meister sind von niemandes Gunst abhängig.

Der Dirigent Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin treten in der Carnegie Hall auf. 
Der Dirigent Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin treten in der Carnegie Hall auf. dpa

In einem Interview wurde Daniel Barenboim vor einigen Jahren gefragt, ob er immer noch Optimist sei. Der Musiker zitierte den italienischen Philosophen Antonio Gramsci, der gesagt habe, man müsse mit der Intelligenz pessimistisch sein, aber mit dem Willen optimistisch. Dem versuche er zu folgen.

In den vergangenen Tagen war zu beobachten, dass Barenboim über eine Willensstärke verfügt, die wohl ihresgleichen sucht. Trotz seiner gesundheitlichen Probleme dirigierte er zu Jahreswechsel in der Staatsoper Unter den Linden Beethovens Neunte und am Wochenende in der Philharmonie Schumann und Brahms. Mit beiden Konzerten bewies Barenboim sich und der musikalischen Welt, dass ein eiserner Wille Berge versetzen kann. Doch seine Botschaft ging weit über die Musik hinaus: Barenboim zeigte, dass alles möglich ist, wenn man nur will; dass auch eine schwere Krankheit nicht mit Resignation hingenommen werden muss; dass es immer Hoffnung gibt, und dass die Musik stärker ist als Leid, Krankheit und Tod. Barenboim, der ein sehr kluger Denker ist, wollte dies alles vor allem sich selbst beweisen – aber auch all jenen, die zweifeln, bangen, verzagen.

Es ist eine ungeheure Leistung, diese beiden Konzert-Serien durchzuziehen – physisch, psychisch, künstlerisch und mental. Barenboim reflektiert viel. Daher hatte er sich eine eigene Dramaturgie für die Eröffnung eines nächsten Kapitel seines Lebens überlegt: Ihm war nach vielen Monaten klargeworden, dass seine Krankheit die wahnwitzige Anstrengung seines multifunktionalen Lebens nicht mehr zulässt. Doch er wollte nicht einfach hinschmeißen. Er wolle auch keinen Mitleidsauftritt hinlegen, nach dem Motto: Seht her, das ist mein letztes Konzert, und nun weint alle mal schön. Er wollte noch einmal unter Wettkampfbedingungen antreten, wie ein Weltklassesportler.

Vor Beethovens Neunter wusste niemand, ob dies nun sein Wiedereinstieg, ein Experiment oder ein Abgesang ist. Barenboim wollte keine Sonderbehandlung, setzte sich der teilweise harten Kritik aus. Er dirigierte die Ode an die Freude im Grunde nach innen, für sich selbst, und für jede einzelne anwesende Seele. Trotzig und verklärt, unterstützt von einem solidarischen Orchester. Seinerzeit bei der Uraufführung hatte in Wien der legendäre Konzertmeister Ignaz Schuppanzigh dem alten Beethoven das Orchester zusammengehalten. Barenboims Neunte, ein Abschluss. Das Publikum jubelte, weil es begriffen hatte, dass es hier um mehr ging als um Musik.

Nach dem Auftritt an der Staatsoper folgt die für viele überraschende Mitteilung. Am Freitag gibt Barenboim bekannt, dass seine Zeit als Generalmusikdirektor an der Staatsoper zu Ende ist. In einer persönlichen Erklärung schreibt er: „Leider hat sich mein Gesundheitszustand im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Ich kann die Leistung nicht mehr erbringen, die zu Recht von einem Generalmusikdirektor verlangt wird. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zum 31. Januar 2023 diese Tätigkeit aufgebe.“ Eine Zäsur für den Künstler, für die Staatsoper, für die Stadt Berlin. Die Nüchternheit, mit der in der Mitteilung die Fakten referiert werden, zeigt von höchster Professionalität. Es geht nicht mehr. Keine Wehleidigkeit. Schnitt.

Das Konzert am Freitagabend mit Martha Argerich in der Philharmonie ist der Anfang des neuen Barenboim. Bei Robert Schumanns a-moll-Klavierkonzert führte die Freundin aus der argentinischen Kindheit Orchester und Dirigenten mit sanfter Bestimmtheit – genau wie vom Komponisten geplant. Brahms‘ Zweite Symphonie wurde zu Kammermusik, bei der die überragenden Instrumentengruppen der Philharmoniker zeigten, dass eine Symphonie auch als Potpourri von Duetten, Quartetten, Quintetten und Sextetten gesehen werden kann.

Dieser Aspekt mag den Umständen geschuldet sein, kommt aber nicht von ungefähr: Barenboim hat als der vermutlich letzte große Universalmusiker unserer Zeit auch in der Kammermusik Spuren hinterlassen, etwa mit dem legendären „Forellenquintett“ von Schubert, das er 1969 in der neuen Queen Elizabeth Hall in London gemeinsam mit Itzhak Perlman, Pinchas Zukerman, Jacqueline du Pré und Zubin Mehta aufführte. Barenboims herausragende Fähigkeiten und sein einzigartig breites Repertoire geben ihm die Freiheit, Projekte zu verwirklichen, von denen andere nur träumen können. Auch das ist eine Botschaft seines souveränen Abgangs: Wer sein Handwerk meisterlich beherrscht, ist nicht von der Gunst anderer abhängig.

Dass er einen untrüglichen Instinkt für den historischen Moment hat, bewies Barenboim am 12. November 1989 mit dem legendären Mauerfall-Konzert für DDR-Bürger, das er dirigierte und bei dem er als Solist in Beethovens erstem Klavierkonzert brillierte. In der Philharmonie gibt es auch mehr als dreißig Jahre später wieder stehende Ovationen. Daniel Barenboim wirkt erleichtert, befreit, fast glücklich. Spielt mit Argerich vierhändig ein kleines Stück von Georges Bizet, Barenboim kündigt es augenzwinkernd an als: „Kleiner Mann, kleine Frau“. Das Publikum hofft auf mehr vom neuen Barenboim. Die Hoffnung scheint begründet, denn in seinem bisherigen Leben hat Barenboim mehr oder weniger rund um die Uhr musiziert. Vielleicht kommen neue Formate? Die Choreografie seines Abschieds zeigt viel Kreativität und Intelligenz. Barenboim kann sich selbst neu erfinden, das hat er jahrzehntelang bewiesen. Auch deswegen ist das Leben des Musikers eine große Ermutigung: Ein Bruch – na und? Wie hoch darf die nächste Decke sein?

Und wie geht es weiter in der Staatsoper? Der Prozess dürfte von drei Personen maßgeblich entschieden werden. Der Intendant der Staatsoper hat ein Vorschlagsrecht – es werden sich also Matthias Schulz und seine Nachfolgerin Elisabeth Sobotka, die 2024 übernimmt, zusammentun. Die letzte formale Entscheidung trifft Kultursenator Klaus Lederer. Schulz sagte der Berliner Zeitung: „Die Entscheidung von Daniel Barenboim verdient unseren höchsten Respekt. Die Staatsoper Unter den Linden ist Daniel Barenboim zu unendlichem Dank verpflichtet! Seit über 30 Jahren hat er seine unerschöpfliche Kraft als Künstlerpersönlichkeit mit weltweiter Ausstrahlung diesem Haus samt seiner Staatskapelle Berlin zugutekommen lassen.“ Barenboim habe „über 30 Jahre unvorstellbar wertvolle Arbeit mit dem Orchester geleistet“, die Staatskapelle sei ein Spitzenorchester. Darauf könne man aufbauen. Der Herbst sei „eine außergewöhnlich erfolgreiche Zeit“ gewesen, das werde „sicher eine Rolle spielen“ bei der Nachfolgesuche. Schulz: „Wir werden fragen, warum uns welche Dinge besonders gut gelungen sind.“

Der Intendant sieht noch keinen Favoriten auf die Nachfolge. Er sagte: „Wir haben mit vielen interessanten Dirigenten und Dirigentinnen gearbeitet und es gibt daher viele Optionen.“ Schulz will eine moderne Lösung ins Auge fassen: „Man muss die Rolle des Generalmusikdirektors für die heutige Zeit ohnehin neu definieren.“ Anlass zur Hektik besteht indessen nicht. „Wir haben eine sehr genaue Planung für die aktuell anstehenden Termine. Die Suche nach einem Nachfolger kann in Ruhe angegangen werden. Es muss nichts überstürzt werden“, sagte Schulz. Dennoch sei „es eine wichtige Entscheidung, für die kurzfristig die richtigen Weichen gestellt werden müssen“. Bei der Neuausrichtung soll „auch berücksichtigt werden, welche Vorstellungen das Orchester hat“.