Gallery Weekend-Rundgang

„Critics Picks“: Das sind unsere Highlights zum Berliner Gallery Weekend ‘22

In Berlin beginnt das Gallery Weekend. 52 Galerien bilden bis 01. Mai den Kern des großen Kunst-Parcours. Sechs Highlights, die Sie gesehen haben müssen.

Neuzugang beim Gallery Weekend 2022: Galerie Heidi, Kurfürstenstraße 145,mit Zeichnungen von Joe Jonas
Neuzugang beim Gallery Weekend 2022: Galerie Heidi, Kurfürstenstraße 145,mit Zeichnungen von Joe JonasStefan Korte

Es ist wieder diese Zeit des Jahres: Die Feiertage sind überstanden, die japanischen Kirschblüten blühen, in Kreuzberg bereitet man sich auf 01.-Mai-Auseinandersetzungen mit der Polizei vor. Und das Gallery Weekend – die vielleicht schönste Ersatz-Kunstmesse der Welt – steht in den Startlöchern.

Ende April öffnen in Berlin bekanntlich um die 50 Berliner Galerien ihre Türen. Traditionell bietet das Gallery Weekend eine konzentrierte Leistungsschau der gegenwärtigen Kunstproduktion, die zu einem gewissen Grad vom Verkaufsdruck befreit ist, der traditionelle Kunstmessen wie die in Basel, London oder New York bestimmt. Dagegen ist das Berliner Gallery Weekend so etwas wie die kleine, coole Schwester.

Die Kunstexpertin der Berliner Zeitung, Ingeborg Ruthe, hat sich hierfür gleich mehrere Galerien angehen – darunter die jüngst neueröffnete Zweigstelle der Galerie alexander levy; die sich in diesem Jahr ganz der Malerei widmende Galerie Capitain Petzel auf der Karl-Marx-Allee; sowie die Galerie Konrad Fischer, die dieses Jahr Videoarbeiten des US-Künstlers Bruce Naumann zeigt.

Der freie Autor und Musikproduzent Benedikt Ellebrecht hat den Sound-Artist Dirk Bell in der Galerie BQ getroffen und sich von dessen immersiven Klanginstallationen inspirieren lassen. Und unsere Herausgeberin Margit J. Mayer besuchte vorab Mehdi Chouakris neue Galerie in den Wilhelm Hallen in Reinickendorf, wo sich Malerei mit skulpturalem Design verschränken.

Wir hoffen, Sie lassen sich hiervon inspirieren und wünschen ein beschwingtes – womöglich auch kämpferisches – Kunst-Wochenende. Das volle Programm ist auf der Homepage des Gallery Weekend hier zu finden: www.gallery-weekend-berlin.de

Immersives Sound-Erlebnis

Mächtige Lautsprecher-Skulpturen zeichnen seit dieser Woche ein imposantes Sound-Gemälde in die Räume der BQ Galerie. Für das menschliche Auge unsichtbar strahlen sie Schallwellen aus, die ein akustisches Meer aus Zeichengeräuschen hervorbringen. An dessen Brandung hängt ein gigantischer weißer Nebelschleier.

Ich treffe Dirk Bell, der in der BQ Galerie bereits seine zehnte Einzelausstellung zeigt – eine bemerkenswerte 4-kanalige Lautsprecher-Installation: Ein mächtiger Speaker empfängt Besucher und Besucherinnen im Eingangsraum. Zwei Boxen erklingen links und rechts im großen Raum der Galerie. Dazwischen: Ein von einer hölzernen Malerleiter getragener Mantel mit monumentaler Schleppe, die in eine riesige, sich über über 14 Meter erstreckende Leinwand mündet – großflächig bemalt und besprenkelt mit weißer Farbe. Ein weiterer Lautsprecher schallt im hinteren Raum der Galerie.

Das Quartett aus Speakern spielt raumübergreifend Geräusche, die Bell beim Zeichnen aufgenommen hat. Sie zischen und schürfen. Vereinzelte, scharfe Töne treten heraus aus diesen sich überlagernden Klangerlebnissen. Die Komposition erinnert an Meeresrauschen, darunter Assoziationen von Maschinengeräuschen. Kultur und Natur verschwimmen, als wären sie niemals zerrissen worden. Die Klänge wirken entspannend, sie vermitteln eine konzentrierte Ruhe. Wir werden hier mit einer Unmenge optischer Eindrücke konfrontiert, und die Geräusche entfalten sich wie ein weißes Rauschen, das sie schraffiert. „Das ist wie eine visuelle Stille nach einer Überdosis von Bildinformation“, so formuliert das Bell.

Klanginstallation des Sound-Künstlers Dirk Bell
Klanginstallation des Sound-Künstlers Dirk BellBQ

Das weiße Rauschen findet in Bells Installation auch eine visuelle Repräsentation: In der weiß getünchten Leinwand, die als Vorhang die ganze Fensterfront der Galerie abdeckt, einen Teil des Bodens überzieht und schließlich in den Mantel auf der Leiter mündet. Der ungetragene, weiß schraffierte Mantel steht im Raum wie ein Gespenst, wie der Kapitän auf dem Bug eines Geisterschiffes, welches aus Nebelschwaden erscheint. Beim Malen, sagt Bell, sei er von Moby Dick inspiriert gewesen. Herman Melville hatte den Roman in einer Zeit geschrieben, in der Menschen begannen, sich selbst sowie ihre Umgebung zu reflektieren. Weiße Flecken auf den Landkarte wurden zunehmend ausgefüllt und katalogisiert.

Bell hingegen tüncht Dinge in weiß. Dabei hat der Künstler auch sein eigenes Gemälde übermalt. Die Leinwand hatte er ursprünglich als Bühnenbild für die Theaterproduktion „Ich. Welt. Wir. Es zischeln 1000 Fragen“ von Fabian Hinrichs und Jürgen Lehmann am Schauspielhaus Hamburg entworfen, die sich mit den Abgründen des Menschseins beschäftigt. Auf der im Galerieraum ausgestellten Seite nicht mehr erkenntlich, kann die kosmisch-existenzielle Bilderwelten eröffnende Malerei von draußen weiterhin im Schaufenster der Galerie betrachtet werden.

Auch wenn Bell bis dato hauptsächlich als Maler und Zeichner in Erscheinung getreten ist, arbeitet er schon seit mehreren Jahren mit Sound. Dieser Aspekt wurde bis jetzt noch nicht explizit ausgestellt. Bei den Aufnahmen für die Soundinstallation versuchte er, mit geschlossenen Augen zu zeichnen. Dadurch habe er den Klang viel präsenter und intensiver wahrgenommen, was das Zeichnen auf eine andere Ebene verlagert habe, wobei die Fantasie beflügelt werde. „Ich bin dann an einem Ort, wo ich mich mit der Zeichnung sammle“, sagt der Künstler über seine Arbeit an den Phantom-Zeichnungen. Die eigentlichen gezeichneten Bilder sind in der Galerie bewusst abwesend – im Raum aber dennoch präsent.

Dirk Bells Klanginstallation schafft eine immersive Erfahrung, die man nicht verpassen sollte. Vom 30. April bis 16. Juli 2022 in der BQ Galerie, Weydingerstr. 10

Ihr könnt meine Bilder berühren

Alles ist Körper, Farbe, Rhythmus, Symbol. El Hadji Sy aus dem Senegal ist eine der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten Westafrikas. In die Ausstellungshalle der Galerie Barbara Thumm gelangen wir durch eine seiner gemalten „Drehtüren“: Vorn und hinten Frau und Mann, Eva und Adam – nackt, wie der Gott der drei mosaischen Religionen sie geschaffen hat. Doch bei diesem Maler werden die beiden Erbsünder nicht aus dem Paradies vertrieben. Bei ihm leben sie im Kunstraum unter Gleichen: Vögel, tanzende Gestalten, Geister. Alles gemalt auf Holztafeln, mit Scharnieren verbunden zu sinnlichen Paravents, zum Schauen und sich dahinter Verstecken. Wir sollen diesen Bildraum buchstäblich betreten, indem wir durch die Bilder, Figuren, durch die Tiersymbole und die rätselhaften Schlaufen-Formen hindurchgehen.

Den dicken, reliefhaften Farbauftrag erzielt El Hadji Sy durch Gips, darüber kommen die leuchtenden Farben. Es ist ein performativer Stil, der ins Skulpturale abschweift. Seit seinem Studium an der École Nationale des Beaux-Arts in Dakar malt der 1954 Geborene auch mit den Füßen. Damit rebellierte El Hadji Sy gegen die rezipierte Kunstgeschichte sowie seinen autoritären islamischen Vater. Auf einer Leinwand herumzutrampeln, mit nackten Füßen auf eine abstrakte Farbkomposition zu schlagen, das wurde zu einer Geste der Anarchie – sowohl gegen eine westliche Maltradition als auch gegen die Idee einer „Africanness“. Also gegen eine Vereinnahmung sowie gegen das Klischee.

El Hadji Sy': „Silhouttes Critiques“, westafrikanische Reliefmalerei auf Hühnerbeinen und mit Backschaufeln  in der  Galerie Barbara Thumm.
El Hadji Sy': „Silhouttes Critiques“, westafrikanische Reliefmalerei auf Hühnerbeinen und mit Backschaufeln in der Galerie Barbara Thumm.Jens Ziehe

El Hadji Sy fand in Dakar sein Atelier in einer ehemaligen Bäckerei. Drei totemartige – auf aus rotem Draht gebogenen „Hühnerbeinen“ stehende – Holzarbeiten, die längs aus dicken Baumstämmen geschnitten wurden, zeigen ein Pferd, den Zeigefinger eines Pianisten sowie Hüfte und Bein einer tanzenden, Schwarzen Frau. Die Konturen sind aus übermalten Schnüren gebildet. Und obenauf hat der Künstler noch Backschaufeln  aus Weißblech montiert.

Das wirkt wie ein poetischer Verweis auf den Wert der alltäglichen Arbeit. „Silhouettes Critiques“ nennt er seinen Beitrag für das Berliner Gallery Weekend. Und, ganz anders als in streng bewachten Ausstellungsräumen, sagt nun dieser Maler aus Dakar: Ihr könnt meine Bilder auch berühren! Das islamische Berührungsverbot ist bei ihm aufgehoben und auch die westliche Distanz zur „hehren“ Kunst. Als wolle er so die Dauerhaftigkeit seiner Kunst erschüttern.

Der Maler El Hadji Sy aus Dakar stellt in der Galerie Thumm aus, Markgrafenstr. 68.

Die Philosophie der Hände

Der Zeigefinger des alten Mannes – mal ist es der seiner linken, mal der seiner rechten Hand – kratzt und streicht hörbar über die alte Tischplatte. Es ist immer die X-Form, die den 80-Jährigen antreibt. Ganz so, als würde er etwas ausstreichen oder markieren. Es ist eine Geste, die der aus Indiana stammende Welt-Künstler Bruce Nauman seit Jahren den indigenen Ureinwohnern Nordamerikas widmet. Als ihnen die weißen Männer der kanadischen Behörden einst ihr Land abspenstig machten und das Volk der Siksika in die Reservate steckten, konnten sie lediglich ihr Kreuz unter die ungerechten Verträge machen. Des Schreibens waren sie nicht mächtig. Den Tisch mit seinen zahllosen Spuren und Zeichen der Abnutzung besorgte Nauman sich nun aus dem Nachlass einer alten Postmeisterei aus der Gegend von Galisteo – seinem Refugium seit Jahren, mitten in der Wüste New Mexikos.

Der berühmte Videokünstler und -performer hat sich im hohen Alter an diesem Ort nun vom Lärm der Welt, von Biennalen, etlichen Documenta-Ausstellungen und zahllosen Groß-Expositionen zurückgezogen. In seinem so schlichten wie vielsagenden Video „Practice“, als Spätwerk Naumans Beitrag zum Berliner Gallery Weekend in der Galerie Konrad Fischer, lässt er seine Hände gleichsam philosophisch agieren. Sie gehen den Spuren des Lebens, Gedanken über Gott und dem Sinn des Lebens nach. Die Hand, so lautet ein altes Sprichwort, mache den Menschen zum lebendigen Kunstwerk. Ihre fünf Finger seien ihre fünf Sinne. Den sechsten Sinn weckt der Künstler bei uns durch die immer gleiche, sich endlos wiederholende Geste der Zeigefinger, die unablässig das „X“ formen – wie als Signum der Entrechteten.

Bruce Nauman, die amerikanische Videolegende, mit der linken Hand  auf Spurensuche im neuen Film „Practice“, in der Galerie Konrad Fischer
Bruce Nauman, die amerikanische Videolegende, mit der linken Hand auf Spurensuche im neuen Film „Practice“, in der Galerie Konrad FischerVG BIldkunst Bonn 2022/ Bruce Nauman/Galerie Konrad Fischer

Bruce Naumans Hände haben Altersflecken. Die Haut der Rechten ist rau, die Nägel rissig. Diese Hände kennen keine Maniküre. Sie verrichten auch grobe Arbeit – neben der Kunst auch in der Erde oder mit Pferden auf seiner Ranch. Die Kameraperspektive wechselt dabei zwischen dem Blick auf die linke und die rechte Hand. „Practice“ ist eine fast meditative Arbeit geworden. Der verstorbene Galerie-Patron Konrad Fischer war vor 50 Jahren der erste Galerist überhaupt, der den Amerikaner Bruce Naumann in Deutschland ausstellte und auch bekannt machte.

Schon damals wirkten seine Videos, Skulpturen, Rauminstallationen und Aktionen verstörend und beunruhigend. Und bis heute kreisen Naumans hochbegehrte Werke, scheinbar unberührt von herrschenden Kunst-Trends, um Fragen der gesellschaftlichen Macht, Gewalt und Unfreiheit. Unbeirrt betreibt er eine Art „dunkler Aufklärung". Und erklärt das so: „Mein Werk entsteht aus der Enttäuschung über die Conditio Humana. Es frustriert mich, dass Menschen sich weigern, andere zu verstehen, und dass sie so grausam zueinander sind. Es ist nicht so, dass ich denke, ich könnte das ändern. Aber es ist doch ein sehr desillusionierender Teil der Menschheitsgeschichte. Aber das treibt mich ins Studio, zwingt mich an meine Arbeit.“

Videokünstler, Performer, Aufklärer: Bruce Nauman aus New Mexiko in der Galerie Konrad Fischer, Neue Grünstr. 12.

Gehirn als Leibesfrucht

Was da an den Wänden der Galerie Capitain Petzel ausgebreitet ist, zerrt förmlich an unserem Unterbewusstsein. Die gleichschenkelig angeordneten Wände, so meint der in New York lebende Maler Sanya Kantarovsky, der Spross einer zu Sowjetzeiten aus Moskau in die USA geflüchteten jüdischen Familie, lasse zugleich an religiöse Architektur und an körperliche Symmetrie denken. Virtuos spielt er mit Figuren, Motiven und Gesten. So surft er förmlich durch die Stilarten der Kunstgeschichte.

Mal glaubt man die melancholische Expressivität eines Edward Munch zu entdecken, dann wieder den schneidenden Verismus eines Otto Dix oder George Grosz. Oder auch den verstörend-sinnlichen Existenzialismus einer Maria Lassnig. Zugleich sind es auch Albtraum-Erscheinungen des Surrealismus, Gestalten wie im Science-Fiction-Film. Motive aus Anatomie, Biologie und Spiritualität ziehen sich durch diese Gemälde. Eine Frau unter einem unglaublich blauen Himmel trägt ein Gehirn wie eine Leibesfrucht im Schoß. Der Maler erinnert hier an das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn. Ein menschliches Organsystem schwebt im Raum. Das Gehirn sitzt auf der Speiseröhre, Köpfe wachsen hier aus Transfusionsschläuchen und Lebensadern. Alles ist mit allem verbunden: Körper, Blutbahnen, Blumen.

Sanya Kantarovsky „Return“, 2022,  Galerie Capitain Petzel
Sanya Kantarovsky „Return“, 2022, Galerie Capitain PetzelJeffrey Sturges Courtesy the artist and Capitain Petzel, Berlinl

Der Maler beschäftigt sich mit dem Tod, der ständigen Erinnerung an ihn, dem verletzlichen Körper. Putins Invasion, den Bruderkrieg seines Geburtslandes Russland gegen die Ukraine, bezeichnet er als „katastrophale Tragödie in Echtzeit“. Er sei Zeuge dieses verbrecherischen Brudermordes, der von einer Macht begangen werde, die ihre Verachtung fürs menschliche Leben zeige und den denkenden und fühlenden menschlichen Körper stets im Fadenkreuz habe. Kantarovskys Malerei zeigt ein ins Unendliche gedehntes Zwischenreich, in dem Schmerz und Trauer nur Gesten, aber noch keine Worte gefunden haben. „Malerei“, sagt er, „verhandelt das Ganze. Sie duldet keine halben Sachen.“

Sanya Kantarovsky aus New York in der Galerie Capitain Petzel, Karl- Marx-Alle 45.

Das Überschreiten von Identitäten

Anziehend und rätselhaft – das ist der erste Eindruck beim Betreten des rechten Galerie-Raumes von Peres Project, beim Anblick der Bilder an der silbergrau gestrichenen Wand. Stanislava Kovalcikovas Malerei kreist um die Frage der Identität und ihrer Konstruktion. Ihre Gemälde halten intime, flüchtige Momente fest, denen auch traumhafte, surrealistische Aspekte innewohnen, wie bei den vielen Designer-Schuh-Paaren, die sie mit den markengeprägten Ledersohlen draußen an die Schaufensterscheiben geklebt hat.

Jeder Absatz ist hier mit Glimmerpigmenten besprüht worden. Auf die Sohle des Blattes, wo sonst der Fußballen sitzt, hat Kovalcikova ein hyperreales Auge gemalt, das die gaffenden Passanten draußen unverwandt zu beobachten scheint. Der Surrealismus lässt grüßen.

Stanislava Kovalcikova:„Not dead yet“, Installation, Galerie Peres Project
Stanislava Kovalcikova:„Not dead yet“, Installation, Galerie Peres ProjectPeres Projects

Der Faktor Zeit spielt eine entscheidende Rolle in ihrer Malerei. Zudem geht es auch um das Thema des Überschreitens von Grenzen. Geboren 1988 in der Tschechoslowakei, als Tochter eines Slowaken, verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend an zig Orten dieser Welt. Heute lebt sie in Düsseldorf. Sie blieb in der Großstadt am Rhein seit ihrem Studium an der dortigen Kunstakademie bei Peter Doig und Tomma Abts. Der ständige Wechsel von Geografie, Sprache, Kultur, Gesellschaft brachte ihr zwar ein Weltbürger-Gefühl, jedoch auch die Erfahrung des Fremdseins.

Diesen Kontrast bildet ihre Kunst nun ab. Die Bilder entstehen oft über lange Zeit hinweg, immer wieder überarbeitet sie ihre Motive. Nicht nur das Erzählen einer Geschichte ist ihr wichtig, sondern vor allem auch der Ausdruck: Gesichter, Körper – Präsenz. Formal fallen Anleihen beim klassischen Kanon der Kunstgeschichte auf: Tizian, Giorgione, Goya, Renoir, Van Gogh oder Manet. So kombiniert die Künstlerin Zitate mit ihrem harten Blick auf brisante Themen der Gegenwart. Eindimensionale Vorstellungen von Gender, Hautfarbe, Identität, sozialen Konventionen und Machtverhältnissen – all das wird in ihren Werken förmlich aufgelöst.

Stanislava Kovalcikova in der Galerie Peres Project, Karl-Marx-Allee 82.

Junge politische Kunst trifft Klassiker der Avantgarde

Gerade wurde wieder umgezogen. Darin hat Berlins Galerieszene schließlich Übung. Immer öfter liegt es an der Gentrifizierung angestammter Bezirke. Nicht selten kommt der Umzugswagen auch wegen der Träume von Kunst: von einer besseren, größeren Location. Die Galerie Alexander Levy verließ nun nach zehn Jahren die Kreuzberger Rudi -Dutschke-Straße und bezog in Moabit die ganze Parterre-Etage eines Eckhauses, samt großem Lagerraum im Keller.

Es ist eine Art Familienzusammenführung, denn Levys Vater, der bekannte Hamburger Altgalerist Thomas Levy, der seit 50 Jahren Stars der klassischen Avantgarde wie Meret Oppenheim, Man Ray und Daniel Spoerri vertritt, brachte seine Schätze samt namhafter Nachlässe nach Berlin. In Hamburg belässt der Senior künftig nur noch einen kleinen Kunstsalon. Zusammen beginnen Vater und Sohn in der 400-Quadratmeter-Galerie mit hohen Schaufensterscheiben nun ein neues Kapitel – Raum an Raum, samt spannender Ergänzung von Surrealismus, Nouveau Réalisme, Pop Art, junger Konzeptkunst und einem großen Bereich für Video Art.

Surrealisten-Kommunikation der Schuhe: Meret Oppenheim (unten) und Daniel Spoerri in der neuen Doppelgalerie Levi Senior & Junior in Moabit
Surrealisten-Kommunikation der Schuhe: Meret Oppenheim (unten) und Daniel Spoerri in der neuen Doppelgalerie Levi Senior & Junior in MoabitVG Bildkunst 2022( Levi )

Im Wirkungsreich des Seniors ziehen Foto-Montagen und ein großes Schachspiel des Surrealisten Man Ray die Besucher magisch an. Über dem berühmten witzigen Paar alter Schnürschuhe der einstigen Man-Ray-Muse Meret Oppenheim baumelt ein Paar hölzerner Schuhleisten von Daniel Spoerri. Das ist wie das bildgewordene, spöttische Sprichwort vom Schuster, der lieber bei seinen Leisten bleiben solle, statt vorzugeben, alles und jedes zu können.

Nebenan – im Medienraum des Junior-Galeristen Levy – sind die Installationen des neuerdings mit österreichischem Pass in Wien lebenden Konzeptualisten Egor Kraft eingeladen. Der junge Russe hat seinem Land den Rücken gekehrt. Der von ihm heftig verurteilte Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine machte es ihm unmöglich, die geplante Arbeit für Berlin zu beenden. Jetzt hat er eine Überwachungskamera installiert, die Metadaten übers Internet auf einen großen Bildschirm lädt und Halbwahrheiten, Fake News und Propaganda deutlich macht, die aufzeigt, was passiert, wenn die ganze russische Nation von der Wahrheit über den Krieg abgeschottet wird. Was passiert, wenn von Moskau bis Wladiwostok nur gefilterte, zensierte, gefälschte Nachrichten verbreitet werden.

Kraft untersucht so durch künstlerische Mittel die technischen Möglichkeiten zur Bekämpfung der Verbreitung von Falschinformationen und Medienpropaganda, die im Mittelpunkt der aktuellen Kriegshandlungen stehen. Er sicherte durch dezentrales Speichern fälschungssichere, unzensierte Informationen, entwarf so komplexe Vorschläge an der Grenze zwischen Kunst, Technologie und Aktivismus. Sein Ziel: Schließlich, wie er es sagt, wolle er „dem gegenwärtigen und dem kommenden Informationskrieg begegnen können“.

Familienzusammenführung Levy Senior & Junior und ein Umzug von Kreuzberg nach Alt-Moabit Nr. 110.