Essay

Warum lieben die Deutschen die Stille?

Unsere Autorin Edna Bonhomme kam aus den USA nach Berlin. Was ihr auffiel: Die Deutschen mögen unglaublich gerne Stille. Wenn es laut wird, ruft man die Polizei. Warum?

Die Deutschen und ihre Stille. Oft eine rätselhafte Beziehung für Ausländer.
Die Deutschen und ihre Stille. Oft eine rätselhafte Beziehung für Ausländer.Berliner Zeitung/Uroš Pajović

Nur sehr wenige gute Dinge passieren auf Twitter. Jahrelang wurde die Plattform als öffentliches Medium genutzt, um falsche Informationen zu verbreiten oder Gewalt zu provozieren.

Letzte Woche habe ich versucht, mich etwas neckischer auf Twitter zu äußern und einen Artikel von Xochitl Gonzalez aus dem amerikanischen Atlantic Magazine zu kommentieren, in dem folgende Frage gestellt wird: „Warum lieben reiche Leute die Stille?“

Ich habe „Reiche Leute“ durch „Deutsche“ ersetzt und damit auf die Vorliebe der deutschen Gesellschaft angespielt, Stille einzufordern. Die Kontroverse ergab sich aus dem Subtext meines Tweets. Mein Tweet basierte auf Beobachtungen, die mir gezeigt haben, dass Menschen in Deutschland gerne die Polizei einschalten oder die Ordnungskräfte rufen, wenn sich Fremde vor einem Späti unterhalten oder auf einem Balkon laut lachen.

Infobox image
Foto: Edna Bonhomme
Über die Autorin
Edna Bonhomme ist Wissenschaftshistorikerin und Kulturjournalistin, die an der Princeton University in Wissenschaftsgeschichte promoviert wurde. Sie forscht zu den Themen Ansteckung, Epidemien, Toxizität und Krankheiten. Ihre Essays sind unter anderem in Al Jazeera, The Guardian, The London Review of Books und The Nation erschienen. Derzeit schreibt Edna Bonhomme an ihrem Buch „Captive Contagions“ (One Signal/Simon & Schuster, 2023). Edna Bonhomme lebt in Berlin.

Innerhalb weniger Stunden befand ich mich mitten in einer lauten und polarisierenden Debatte über die deutsche Ruhezeit, in einer Debatte also, in der Deutsche und Nichtdeutsche ihren Standpunkt zur „Ruhe“ und der Kultur der Stille und des Schweigens kontrovers zum Ausdruck brachten. Die einen meinten, die Stille werde pathologisiert, die anderen, Nichtdeutsche würden pathologisiert. In jedem Fall wurde übereinander gesprochen und die Positionen der anderen wurden zum Schweigen gebracht.

Ruhe und Inspiration

Die meisten Deutschen kennen die sogenannte Ruhezeit als Bestimmung, die den gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmen von Stille strukturiert. Durch ein Geflecht von Bundes-, Landes- und Kommunalgesetzen ist die Ruhezeit als Regel definiert, die in Deutschland besagt, dass zwischen 20:00 Uhr und 6:00 Uhr und an Sonntagen kein Lärm gemacht werden darf.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Neigung zur Ruhe als Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung und auf das Bedürfnis der gestressten Arbeiterklasse nach Stille. Dieses Bedürfnis blieb auch deutschen Gelehrten nicht verborgen. So bemerkte Johann Wolfgang von Goethe einmal: „Talent entwickelt sich an stillen Orten“ und betonte, dass der kreative Prozess unter Bedingungen, in denen die Geräusche von Maschinen und Menschen gedämpft werden, ideal sei.

Wie die ersten Ohrstöpsel erfunden wurden

Der bahnbrechende Moment für die deutsche Lärmbekämpfung war 1907, als der Philosoph Theodor Lessing in Hannover den ersten Antilärmverein des Landes gründete. Die Mitglieder des Antilärmvereins trafen sich, um darüber zu diskutieren, wie die Geräusche der Moderne – einschließlich Geräusche von Fabriken und Autos – die geistige und kulturelle Welt beeinflussten und manchmal einschränkten.

Insgesamt hatten sie eine Liste von Anliegen, die darauf abzielten, den städtischen Lärm zu beseitigen, der durch Straßenbahnen, Kehrmaschinen und Lieferungen verursacht wurde. Sie wollten sogar das Hundegebell einschränken, das ihrer Meinung nach ihrem Streben nach akustischem Frieden zuwiderlief.

Kurz nach der Gründung dieser Gesellschaft entwickelte der Berliner Apotheker Max Negwer Ohropax, die ersten lärmmindernden Ohrstöpsel. 1917 bewarb Negwer die Ohrstöpsel als Schutz gegen Geräusche von Kanonen, die bei vielen Soldaten in den Schützengräben zu langfristigen Hörschäden führten. Doch mit der Erfindung des Ohrstöpsels war es nicht getan. Bis 1974 wurde in Westdeutschland das Umweltbelastungsgesetz eingeführt, um den Verkehrslärm zu reduzieren. Da diese Maßnahmen für das Zusammenleben in jeder Gesellschaft notwendig sind, lohnt es sich auch, die Wissenschaft des Schalls zu erforschen.

Warum glaubt man, dass Ausländer laut sind?

Man muss wissen: Bei zu hohen Pegeln kann übermäßiger Lärm zu Hörverlust führen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen unverhältnismäßig stark von Hörverlust betroffen. Eine längere Lärmbelastung mit Pegeln über 70–85 Dezibel gilt als gefährlich für das menschliche Gehör. Eine Konfrontation gegenüber Lärmpegeln von über 85 Dezibel, die mehr als acht Stunden pro Tag andauert, kann das Risiko eines lärmbedingten Hörschadens oder -verlusts um ein Vielfaches erhöhen.

In alltäglichen Umgebungen sollte die empfohlene Lärmdosis 70 Dezibel über 24 Stunden nicht überschreiten. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Risiko eines Hörverlusts umso größer ist, je länger man lauten Aktivitäten, lauten Kopfhörern oder Sirenen von Krankenwagen ausgesetzt ist. Ein Motorrad beispielsweise hat einen typischen Schallpegel von 95 Dezibel, und in einer Diskothek kann man etwa 110 Dezibel messen. Der Geräuschpegel in Wohngebieten darf in Deutschland tagsüber 55 Dezibel und nachts 40 Dezibel nicht überschreiten.

Da der akzeptable Dezibelpegel eines Durchschnittsmenschen bei etwa 60 liegt, gilt alltägliche Sprache nicht als schädlicher Lärm. Die Wahrscheinlichkeit durch ein lautes Gespräch vor einem Späti oder auf dem Balkon des Nachbarn einen Hörschaden zu erleiden, ist also sehr gering. Die Twitter-Debatte über Lärm und insbesondere darüber, dass Nichtdeutsche tagsüber im öffentlichen Raum zu laut sind, wirft also mehrere Fragen auf: Warum wird davon ausgegangen, dass Ausländer zu laut sind? Und: Sollte sich in Deutschland wirklich jeder automatisch an den ethischen Kodex für Lärm anpassen?

Wer darf Lärm machen?

Kurz nach der viral gehenden Twitter-Diskussion unterhielt ich mich in Neukölln mit einem Europäer mit afrikanischen Wurzeln und kam auf den Soziologen Max Weber zu sprechen. Als wir uns erneut mit seinem Werk befassten, versuchten wir, den Zusammenhang zwischen dem Pietismus und der deutschen Gesellschaft zu entschlüsseln. In seinem bahnbrechenden Werk „Die protestantische Ethik“ legt Weber nicht nur dar, wie der Aufstieg des Protestantismus eine bestimmte kapitalistische Arbeitspraxis förderte, sondern er zeigt auch auf, wie dies die sozialen Schichten in Deutschland prägte.

Der Calvinismus, so Weber, verabschiedete die christliche Gemeinschaftsliebe und verwandelte das Christliche in die rationale Organisation der sozialen Umwelt und definierte den Menschen als Nutztier. Das bedeutet, dass Menschen, deren Praktiken nicht in den Modus der protestantischen und kapitalistischen Ordnung passten, potenziell Hass und Verachtung ausgesetzt waren.

Weber starb kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Zu seinen Lebzeiten durchlief die deutsche Gesellschaft massive politische und wirtschaftliche Veränderungen – einschließlich des Erwerbs afrikanischer Kolonien durch das Kaiserreich. Natürlich schrieb Weber für eine andere Zeit, und doch haben einige seiner Theorien nach wie vor Gültigkeit. Der Aufstieg des Kapitalismus ist in die Kultur eingebettet. Wie wir uns zueinander verhalten, ist nicht statisch, sondern einer sich verändernden Wahrnehmung von Ethik, Zuneigung und Tradition unterworfen. Lärm und die Frage, wer ihn machen darf, sind Teil dieser Debatte.

Das Berlin von heute unterscheidet sich von dem der 1980er-, 1960er- und 1940er-Jahre. Es gibt einen größeren Anteil von Menschen afrikanischer und asiatischer Abstammung. Der Döner ist Teil der Identität der Stadt. Berlin hat Migranten aufgenommen, die durch Kriege in Osteuropa und im Nahen Osten vertrieben worden sind.

Eine Balance zwischen Ruhe und Lärm

Wenn man in einer multikulturellen Gesellschaft lebt, in der Menschen aus einem fremden Land leben, sind wir es einander schuldig, zusammenzuleben, voneinander zu lernen und zu wachsen. Das kann bedeuten, dass man sich neu anpasst oder auch assimiliert, wie es deutsche Beamte gerne sagen. Dabei wird leider davon ausgegangen, dass die Last der Veränderung von den Migranten selbst getragen werden muss. Und dass die „dominante“ Kultur statisch bleiben darf, sich also nicht verändern muss.

Natürlich wissen wir, dass das so nicht stimmt. Einige von uns werden vielleicht lauter und selbstbewusster verkünden, dass Berlin auch die Heimat von Migranten ist. Vielleicht sind die engen und strikten Parameter der Ruhezeit nicht immer der beste Weg, damit eine sich verändernde Berliner Gesellschaft funktioniert. Die Anerkennung einer städtischen Klanglandschaft, die sich in kollektivem Besitz befindet, in ausgewogener Weise geschützt ist und allen das gleiche Recht auf eine angemessene, gesunde und produktive städtische Klanglandschaft bietet, ist eine Herausforderung, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Die Herausforderung besteht nicht darin, eine einzige Art und Weise zu finden, über Lärm nachzudenken, sondern ein Gleichgewicht zu finden zwischen unserem Recht, Lärm zu machen, und unserem Recht, in Ruhe in unserer Stadt leben zu können.

Dieser Text wurde aus dem Englischen von Tomasz Kurianowicz übersetzt.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de