Berlin

KRANKENKASSE - Am 1. Juli tritt eine weitere Stufe der Gesundheitsreform in Kraft. Sie entlastet die Arbeitgeber. Für die Versicherten wird es teurer als mancher denkt. Die Politik versucht, das zu verschleiern.: Die Beiträge sinken, zu zahlen ist mehr

BERLIN, 14. Juni. Stellen Sie sich vor, der Beitragssatz für ihre Krankenkasse sinkt, aber Sie zahlen am Ende doch mehr in diese Versicherung ein. Unmöglich? Nein, dank der 2003 von rot-grüner Bundesregierung und Union vereinbarten Gesundheitsreform werden das ab 1. Juli zig Millionen gesetzlich Versicherte erleben. Was zunächst wie ein Ärgernis aussieht, ist jedoch weit mehr. Der 1. Juli 2005 markiert eine Zäsur in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung: Die endgültige Aufhebung der Parität, also des Prinzips der hälftigen Finanzierung der Krankenversicherung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber.Ein Blick zurück auf den 21. Juli 2003: In den frühen Morgenstunden telefonieren CDU-Chefin Angela Merkel und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) miteinander, um die letzten Steine auf dem Weg zu einer gemeinsamen Gesundheitsreform wegzuräumen. Schröder will den Erfolg und deshalb kann Merkel durchsetzen, dass gegen den Willen der SPD die Absicherung des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen wird. Künftig, so lautet der Plan, können sich alle Versicherten aussuchen, ob sie den Zahnersatz als zusätzliche Leistung bei einer gesetzlichen oder einer privaten Kasse versichern.Für Merkel ist die Ausgliederung von besonderer Bedeutung, denn sie ist ein Testlauf für die Unionsplanung, in der Krankenversicherung eine einkommensunabhängige Kopfpauschale einzuführen. Auch die Absicherung des Zahnersatzes bei einer Privatkasse soll schließlich mit einer festen Prämie umgesetzt werden. Schon bald wird deshalb die Bezeichnung "kleine Kopfpauschale" verwendet.Die Gesetzesänderung sollte zum 1. Januar 2005 in Kraft treten - Zeit genug für die Regierungsseite, das Lieblingsprojekt der Union doch noch zu hintertreiben. Und so tauchen im Frühjahr 2004 Meldungen auf, die Versorgung von Rentnern und Arbeitslosen mit Zahnersatz sei gefährdet. Grund sei die "kleine Kopfpauschale", die beim Beitragseinzug zu enormen Schwierigkeiten führe. Die Union wettert zunächst, lenkt dann aber ein. Merkel befürchtet, dass Probleme beim Zahnersatz die Akzeptanz der Kopfpauschale gefährden. In einem Vier-Augen-Gespräch mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt willigt sie ein, die Ausgliederung des Zahnersatzes rückgängig zu machen.Daraufhin legt die Regierung ein neues Gesetz vor. Der Zahnersatz bleibt danach weiterhin Leistung der gesetzlichen Krankenkasse. Um die erwünschten Beitragssenkungen dennoch zu realisieren, müssen die Arbeitnehmer die Zahnversicherung ab 1. Juli 2005 wie ursprünglich vorgesehen zusätzlich aus der eigenen Tasche zahlen. Bei jährlichen Kosten für den Zahnersatz von vier Milliarden Euro sind dafür 0,4 Beitragssatzpunkte nötig.Hinzu kommt eine weitere einseitige Belastung, die im Gesundheitskompromiss vereinbart worden war, nämlich die Umfinanzierung des Krankengeldes. Auch das soll allein von den Versicherten getragen werden, obwohl beispielsweise Rentner gar kein Krankengeld bekommen können. Um Probleme mit eventuellen Klagen zu vermeiden, ist daher im Gesetz lediglich von einem "Sonderbeitrag" in Höhe von 0,5 Beitragspunkten die Rede.Zusammen mit dem Zahnersatz müssen die Versicherten ab 1. Juli also einen Betrag von neun Milliarden Euro - oder 0,9 Beitragspunkten - vollständig allein zahlen. Um diese Erhöhung zu verschleiern, dachten sich die Gesundheitspolitiker einen Trick aus: So wird der "allgemeine Beitragssatz" künftig ohne Zahnersatz und Krankengeld ausgewiesen, obwohl beides Kassenleistung bleibt. Die Folge sind sinkende Sätze, die aber nur den Arbeitgebern nutzt. Sie zahlen 0,45 Prozentpunkt weniger, während die Arbeitnehmer 0,45 Punkte mehr zahlen. Das bedeutet: Die Parität wird aufgehoben, der Beitrag für Versicherte steigt.Es kommt aber noch dicker. Zwar hält sich der Großteil der Krankenkassen an die gesetzliche Vorgabe, den allgemeinen Satz um 0,9 Prozent zu senken. Einige Kassen schieben jedoch sofort eine Anhebung hinterher, wodurch die Versicherten doppelt belastet werden. Ein schlechtes Gewissen haben die Versicherungen dabei offenbar nicht: "Bevor Sie sich bei uns beschweren, wenden Sie sich bitte an die oder den für ihren Wohnort zuständigen Bundestagsabgeordneten", schreibt dieser Tage eine der betroffenen Kassen an ihre Mitglieder.------------------------------Was der Sonderbeitrag kostetAb 1. Juli gibt es in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Sonderbeitrag. Was ändert sich für die Versicherten?Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen müssen einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Beitragspunkten zahlen. Arbeitgeber und Rentenkassen beteiligen sich daran nicht. Der Sonderbeitrag ist nur von den Mitgliedern aufzubringen. Zugleich - so die Vorgabe der Politik - müssen die Krankenkassen ihre Beitragssätze um 0,9 Prozentpunkte senken.Also eine Nullsummen-Rechnung?Nein, da die Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils um 0,45 Prozentpunkte entlastet und die Arbeitnehmer gleichzeitig allein mit 0,9 Prozentpunkten belastet werden, müssen die Arbeitnehmer stärker in die Tasche greifen. Gleiches gilt für Rentner: Auch diese werden belastet, die Rentenversicherung hingegen entlastet.Erzielen die Krankenkassen durch den Sonderbeitrag höhere Einnahmen?Nein, den gesetzlichen Krankenkassen bringen die Änderungen keinen zusätzlichen Euro.Wie hoch ist maximal die Mehrbelastung für gesetzliche Kassen-Mitglieder?Die Mehrbelastung beträgt 0,45 Beitragspunkte. Wie viel jeder tatsächlich mehr zahlen muss, hängt vom jeweiligen Bruttoeinkommen ab. Legt man die gültige Beitragsbemessungsgrenze von monatlich 3 525 Euro zu Grunde, ergibt sich für jeden Versicherten maximal eine Mehrbelastung von monatlich 15,86 Euro. Bei einem Durchschnittsverdienst von 1 600 Euro brutto sind es 7,20 Euro im Monat. Das triff nur zu, wenn die Krankenkasse den Beitragssatz nicht zusätzlich ändert.Vorausgesetzt, meine Krankenkasse hat keine zusätzlichen Änderungen am Beitragssatz vorgenommen. Wie berechne ich dann meine individuelle Mehrbelastung?Bruttoverdienst mal 0,0045 gleich monatliche Mehrbelastung in Euro.Muss der Sonderbeitrag auch für Familienangehörige gezahlt werden?Nein, den Sonderbeitrag zahlen nur Kassenmitglieder. Familienversicherte sind beitragsfrei mitversichert.Was ist bei Selbstständigen?Da Selbstständige ihren kompletten Beitrag selbst zahlen (also Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil), ist die Senkung des paritätischen Beitragssatzes und die gleichzeitige Einführung des Sonderbeitrages um jeweils 0,9 Beitragspunkte für sie ein Nullsummenspiel.Müssen auch Privatversicherte den Zusatzbeitrag bezahlen?Nein, die Änderungen betreffen unmittelbar nur Mitglieder gesetzlicher Kassen. Aber da durch die Rochade der Arbeitgeber-Zuschuss für die private Krankenversicherung gesenkt wird, kann es auch für Privatversicherte zu höheren Beiträgen kommen.Muss ich mich bei meiner Krankenkasse melden? Oder wird die Änderung automatisch vorgenommen?Die Änderung erfolgt automatisch.Darf ich meine Krankenkasse wegen des Sonderbeitrages wechseln?Der Sonderbeitrag löst nach Auskunft kein Sonderkündigungsrecht aus. Ein Sonderkündigungsrecht gibt es jedoch, wenn die Krankenkasse ihren Beitragssatz zwar in der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Höhe senkt, diesen aber sofort anhebt.Warum hat der Gesetzgeber die Änderungen überhaupt vorgenommen?Der Sonderbeitrag wurde mit dem Ziel eingeführt, die Lohnnebenkosten zu senken beziehungsweise die Rentenversicherung zu entlasten.Wie stark werden die Arbeitgeber durch die Änderungen entlastet?Die Wirtschaft wird um 4,5 Milliarden, die Rentenkassen werden um 0,9 Milliarden Euro entlastet.Zusammenstellung: Christian Lipicki------------------------------Grafik: Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen------------------------------Grafik: Gesetzliche Krankenversicherung------------------------------Foto: Kliniken klagen seit langem über ihre sich verschlechternde Finanzlage. Jede zweite schreibt rote Zahlen, weil die Budgets seit zehn Jahren kaum steigen, die Kosten aber stark wachsen. Den Krankenkassen werfen sie vor, sie hätten ihre Sparstrategie zu Lasten der Krankenhäuser verschärft.