Psychotherapie und Pandemie

So könnte die mentale Belastung der Bevölkerung aufgefangen werden

Pilar Isaac-Candeias von der Berliner Psychotherapeutenkammer kritisiert das Gesundheitssystem und hat Vorschläge für eine bessere Versorgung psychisch Kranker.

Die Pandemie hat uns gelehrt, wie verletzlich wir alle sind. Es braucht mehr gesellschaftliches Engagement, um ganzen Bevölkerungsgruppen präventiv psychotherapeutisch zu helfen.
Die Pandemie hat uns gelehrt, wie verletzlich wir alle sind. Es braucht mehr gesellschaftliches Engagement, um ganzen Bevölkerungsgruppen präventiv psychotherapeutisch zu helfen.imago/Westend61

Berlin-Therapieplätze sind begrenzt, mentale Probleme in der Bevölkerung häufen sich. Viele Menschen sehnen sich nicht erst seit Corona nach einem professionellen Ansprechpartner, mit dem sie sich über ihr Leben austauschen können. Pilar Isaac-Candeias, Vorstandsmitglied der Berliner Psychotherapeutenkammer, findet, dass es mehr „psychotherapeutische Hausärzte“ geben müsste, die nicht nur lange Therapien anbieten, sondern in ein oder vier Sitzungen als Wegweiser weiterhelfen. Ein Gespräch über realitätsferne Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn, Psychotherapie für die migrantische Bevölkerung und das deutsche Gesundheitssystem, das die falschen Anreize setzt.

Berliner Zeitung: Frau Isaac-Candeias, hat die Corona-Pandemie eine kollektive psychische Belastung der Bevölkerung ausgelöst?

Pilar Isaac-Candeias: Ja, aber man darf die Situation nicht dramatischer darstellen, als sie ist. Die Menschen sind gleichermaßen mütend, erschöpft, genervt, halten sich meist trotzdem ganz gut zusammen, weil sie sich entlasten können, indem sie permanent über die Corona-Krise reden. Sobald die Normalität eingekehrt ist, wird es der Mehrheit wieder gutgehen. Ein kollektives Problem kann nämlich oft viel leichter überwunden werden, weil es alle getroffen hat. Diejenigen, die sowieso schon immer „mental wackelig“ waren, und die, die sich in der Corona-Krise psychisch betrachtet übernommen haben, die werden mit Depressionen kämpfen müssen, die aus der Erschöpfung entstehen. Das wird noch kommen.

Haben sich viele Menschen nicht bereits vor der Corona-Krise komplett übernommen?

Wir leben in einer Zeit, die nicht von Optimismus geprägt ist. Das war schon vor der Pandemie der Fall. Die Menschen kämpfen einerseits mit immens wichtigen globalen Problemen, wie der Klimakrise, und sind andererseits damit beschäftigt, ihren persönlichen Weg zu finden. Entscheidungen zu treffen, Ambivalenzen auszuhalten: Will ich auf dem Land leben oder in der Stadt? Es gibt Lebensphasen, in denen wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden. Und dann kommt ständig Neues hinzu, wie die sozialen Netzwerke, die zu einem Untergrundrauschen führen. Da muss man eine gewisse Resilienz aufbauen, um dieser Dauer-Überlastung zu entkommen. Man kann sich fürs Klima engagieren, um nicht der Hilflosigkeit zu verfallen. Und parallel nach dem eigenen Glück im Chaos suchen.

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Pilar Isaac-Candeias
Zur Person
Pilar Isaac-Candeias ist Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin und arbeitet als Psychotherapeutin in einer Praxis in Berlin-Schöneberg.

Sie setzt sich besonders für Themen der Prävention und der Migration ein. Unter anderem geht sie den Fragen nach, wie Menschen aus anderen Ländern dabei unterstützt werden können, in Deutschland heimisch zu werden.

Sie arbeiten in einer Praxis in Berlin-Schöneberg. Haben sich die mentalen Probleme während der Pandemie geändert?

Ich führe sehr viele Beratungsgespräche und muss sagen, dass die Probleme dieselben sind wie immer. Es gibt eine Gruppe, die von der Corona-Krise profitiert hat. Ich betreue zum Beispiel Menschen mit sozialen Phobien. Die waren ganz dankbar für die Pandemie, denn der Druck, sich mit anderen Menschen zu treffen, fiel für sie weg. Ich arbeite auch mit Menschen, die schwierige Persönlichkeiten sind, die zum Beispiel am Arbeitsplatz ständig mit Kollegen in Konflikt geraten sind. Die waren wiederum dankbar, dass Homeoffice möglich war.

Und dann gibt es andere, die in der Pandemie ihren Job verloren haben und existenziell betroffen sind, welche, deren Partnerschaft an der Krise zerbrochen ist, oder Menschen, die Angststörungen vor der Zukunft, dem Virus, dem Leben entwickelt haben. Ich habe auch Patienten betreut, die völlig vereinsamt sind in der Pandemie, die ihre winzigen Haltegriffe, die sie sich über die Zeit mühsam erarbeitet haben – ihre Wandergruppe oder das regelmäßige Spazierengehen mit der einzigen guten Freundin – verloren haben. In der Krise sind einige frühere Patienten zurückgekehrt, die das Gefühl hatten, in alte Muster und Gefühle zurückzufallen.

Raster-Psychotherapie: Sabotage der Demokratie

Wie kann man sich die Beratungsgespräche vorstellen? Finden sie einmalig statt?

Kommt drauf an. Eine Sprechstunde dauert 50 Minuten, quasi eine Schnellhilfe für die mentale Gesundheit. Ich bin wie eine psychotherapeutische Hausärztin. Manchmal ist es nämlich so, dass die Menschen einfach ihren Weg verloren haben. Da reichen eine, manchmal drei, vier Therapiesitzungen aus, um sie auf ihre Ressourcen aufmerksam zu machen. Andere brauchen eine Therapie, da kläre ich dann auf und sage, dass es extrem schwierig ist, einen Therapieplatz zu bekommen, gebe natürlich trotzdem Adressen und Telefonnummern weiter. Auch ich habe Patienten, die in einer langen Behandlung sind.

Die Bundesregierung wollte, dass an die Stelle von individueller Diagnose und Behandlung eine Versorgung nach groben Rastern treten soll, die festlegen, wie lange eine Patientin oder ein Patient je nach Schweregrad der Erkrankung behandelt werden darf.

Der Gesetzesvorstoß kam aus dem Nichts. Und wir konnten ihn glücklicherweise abwenden. Aber es ist klar, in welche Richtung es gehen soll. Gesundheitsminister Jens Spahn lässt gerne solche Omnibus-Gesetze beschließen. Eine Woche, bevor die Anhörung im Gesundheitsausschuss stattfindet, lässt er schnell noch einen wichtigen Punkt einfügen, wie auch die Raster-Psychotherapie. Wenn dann die Abgeordneten nicht sehr aufmerksam sind, wird das Gesetz beschlossen. Ich halte das für eine Sabotage der Demokratie.

Was ist der Hintergrund der Raster-Psychotherapie?

Sehr viele Menschen wünschen sich eine psychotherapeutische Begleitung irgendeiner Art, einen Ansprechpartner, mit dem sie sich über ihr Leben austauschen können. Der Druck ist groß. Die Raster-Psychotherapie, so der Plan, hat vorgesehen, dass schwer kranke Menschen – sagen wir – 50 Therapiestunden in Anspruch nehmen können und zum Beispiel diejenigen mit einer leichten oder mittelgradigen Depression dagegen zehn. Das ist völliger Quatsch, denn Patienten erzählen nie alles am Anfang. Es kommt ganz auf die Beziehung zum Therapeuten an, wie vertrauenswürdig man ihn findet.

Es könnte also sein, dass der Psychotherapeut anfangs eine leichte Depression diagnostiziert, später aber herausfindet, dass eine traumatische Lebensgeschichte dahintersteckt. Jahreslanges Mobbing oder sexueller Missbrauch zum Beispiel. Ein weiteres Problem bei der Raster-Psychotherapie ist, dass manche sehr kranke Menschen mit Psychosen, die schwere Medikamente einnehmen und meist mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, manchmal überhaupt nicht in der Lage sind, regelmäßig in die Praxis zu kommen oder auch nur ihren Termin abzusagen. Folglich kann ich sie nicht behandeln in der Struktur einer ambulanten Praxis. Spahns Plan war fernab der Realität. 

Gefährliche Psychologisierung: „Zünde dir eine Kerze an“

In der Pandemie wurden zum Teil Videosprechstunden angeboten, um dem Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe gerecht zu werden. Kann digitale Behandlung das Gleiche leisten wie ein Face-to-Face-Gespräch?

Hilfreich ist es auf jeden Fall. Vor allem kann eine teilweise digitale Therapie gut mit Patienten funktionieren, die bereits in Behandlung sind. Bei neuen Patienten gehen zu viele Informationen verloren. Man kann den Händedruck nicht spüren. Man sieht nicht, ob er auf seine Körperhygiene achtet oder ob er Blickkontakt hält. All diese Informationen, mögen sie auch als Kleinigkeiten erscheinen, werden über den Bildschirm nicht vermittelt. Auch der Patient selbst bekommt nur einen Bruchteil vom Therapeuten als Mensch mit. Übers Telefon oder per Chat erfährt man noch viel weniger. Die Arbeit an der therapeutischen Beziehung ist erschwert.

Ist jeder Mensch in der Lage, sich einem Fremden gegenüber zu öffnen?

Manche sind besser darin, andere schlechter. Zumindest muss der Mensch ein Bewusstsein dafür haben, dass seine Probleme sich vielleicht im Körper manifestieren, aber nichts rein Körperliches sind. Wenn zum Beispiel eine Frau ihre ständigen Kopfschmerzen, Magenverstimmungen und Schlafprobleme versucht, mit einer passenden Tablette zu bekämpfen, und bemerkt, dass dies nicht die Lösung ist, müsste sie in Betracht ziehen, dass es sich vermutlich um ein psychisches Problem handelt.

Das ist ein großes Eigengeständnis …

… und vor allem eine große Überwindung, sich Hilfe zu suchen, wenn man alleine nicht weiterkommt. Dann muss man sich anvertrauen und das dunkelste Innere zeigen – eben einer fremden Person gegenüber. Das ist nicht leicht. Es gibt auch eine Psychologisierung der Gesellschaft, in jeder Frauenzeitschrift wird „Positives Denken“ thematisiert, als sei jeder seines Glückes Schmied. Nach dem Motto: Dir geht es nicht gut? Dann zünde dir eine Kerze an. Das finde ich gefährlich. Psychotherapie wird oft banalisiert. Besonders gemein finde ich es, wenn es heißt, dass sich mittlerweile ja jeder psychologischen Rat hole, auch wenn es sich um einfache Befindlichkeitsstörungen handele. Das stimmt nicht. Man kann zu einem ersten Gespräch gehen, um es herauszufinden. Aber eine Therapie, die von den Krankenkassen bezahlt wird, ist eine Krankenbehandlung. Zumindest den ersten Schritt muss man also leicht machen und genügend Sprechstunden anbieten.

Die Angebote müssen also niederschwelliger werden?

Beratungsgespräche sind einigermaßen zugänglich, aber für viele ist das System noch immer zu kompliziert. Sie wissen nicht, wo oder wie sie eine Sprechstunde vereinbaren können. Dann rufen sie irgendeine Praxis an, erreichen vielleicht keinen, oder sie bekommen eine Absage oder vielleicht keinen Rückruf.

Und dann lässt man es erst mal sein.

Richtig. Dann verschlimmert sich die Symptomatik, bis man sich zum nächsten Anlauf aufrappelt. Die Frustration steigt immens, wenn es niemanden gibt, der ein offenes Ohr für einen hat.

Wie kann dieser Kreislauf durchbrochen werden?

Wir brauchen mehr Psychotherapeuten und mehr Therapieplätze. Aber damit ist es nicht getan. Es muss mehr psychotherapeutische Hausärzte geben, so wie in meinem Fall, die nicht nur Therapien anbieten, sondern auch oder vor allem Wegweiser sind.

Es gibt ganze Bevölkerungsgruppen, die überhaupt nicht die Möglichkeit haben, sich psychotherapeutische Hilfe zu holen, weil sie die deutsche Sprache nicht beherrschen und es sehr wenige Angebote in diese Richtung gibt. Wie kann man sie erreichen?

Sprache ist der Schlüssel zur Therapie. Das muss man ganz klar sagen. Wenn man im Kopf immer nach den passenden Wörtern suchen muss, bleibt ein psychotherapeutisches Gespräch auf einer oberflächlichen Ebene. Und es hat auch was mit der Möglichkeit zu tun, sich mit dem Therapeuten identifizieren zu können. Ein türkischer Patient sieht in einem deutschen Therapeuten eher einen Fremden, der nicht zur eigenen Kultur gehört. Da ist es zwar nicht unmöglich, aber doch sehr viel schwieriger, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Deshalb ist es notwendig in dieser Stadt, die sich Metropole nennt, Angebote zu haben und diesen Mitbürgern, die ihre Krankenkassenbeiträge bezahlen, eine Therapie in der eigenen Muttersprache anzubieten, wenn sie sie wirklich brauchen. Juristisch haben sie kein Recht dazu. Die Krankenkassen können das aber sehr wohl steuern. Beispielsweise könnten Menschen mit Migrationshintergrund zu einem approbierten Therapeuten ohne Kassensitz in Behandlung gehen, der ihre Muttersprache beherrscht. Der könnte dann einen individuellen Kostenerstattungsantrag bei der Kasse stellen. Das Problem ist, dass die Krankenkassen in den vergangenen Jahren dazu übergangen sind, solche Individualleistungen abzulehnen. Das finde ich falsch.

Präventionskurse für mentale Gesundheit der Bevölkerung

Wie kann Menschen mit Migrationshintergrund beim Thema Psychotherapie noch geholfen werden?

Die Kammer hat einen kassenfinanzierten Präventionskurs namens „Far from home“ gestartet, für Menschen, die mit dem sogenannten Migrationsproblem zu kämpfen haben. Wir haben auch einen Kurs mit einem gruppentherapeutischen Ansatz entwickelt, „Lost in Integration“, der von einer Universität evaluiert wurde und positive Ergebnisse erzielte. Es gibt viele Migranten, die sich in Deutschland nicht wohlfühlen, weil sie zum Beispiel nach ihrer Einwanderung einen Statusverlust erlitten haben. Etwa, wenn sie in ihrem Heimatland Lehrer waren und in Deutschland als Putzkraft arbeiten müssen. Ihr Selbstbewusstsein leidet sehr darunter. Oder sie beherrschen die Sprache nicht gut genug und kennen die ungeschriebenen Codes nicht, die in jeder Gesellschaft gelten und sehr verschieden sein können.

Dies führt bei manchen zum Gefühl, sich durch Deutsche diskriminiert zu fühlen. In unseren Kursen können sie in angeleiteten Gruppen und in ihrer Muttersprache darüber sprechen, welchen Stress die Migration auslöst. Da sind nicht nur neu Zugezogene, sondern auch Menschen, die das Migrationsproblem seit Jahren mit sich tragen. So ein Präventionskurs ist ein bisschen wie Yoga für die mentale Gesundheit, um psychische Erkrankungen vorzubeugen.

Solche Präventionskurse könnten für alle möglichen Arten von Problemen organisiert werden, oder?

Natürlich. Für Menschen in Schwellensituationen, zum Beispiel wenn sie Schwierigkeiten haben, mit der Berentung zurechtzukommen. Für queere Menschen. Für Jugendliche, die zu Hause Gewalt erleben. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, um die mentale Belastung der Bevölkerung aufzufangen. Solche präventiven Angebote müssen aus der Gesellschaft heraus entstehen. In Schulen könnten Lehrer über psychische Gesundheit aufklären. Das würde jungen Menschen helfen, zu erkennen, dass die eigene Mutter beispielsweise Anzeichen einer Depression oder eine Psychose hat.

Es könnten Jugendclubs eröffnet werden, wohin Jugendliche aus schwierigen Familien flüchten können. Und natürlich könnten sich Psychotherapeuten überlegen, was sie außerhalb ihrer Praxis tun können, um ganzen Gruppen präventiv psychotherapeutisch zu helfen. Die Pandemie hat uns gelehrt, wie verletzlich wir alle sind. Aus diesem Gefühl heraus sollten wir mehr Solidarität an den Tag legen. Da kann jeder Einzelne Hilfe organisieren mit seinen spezifischen Möglichkeiten und Kenntnissen.

Und was muss auf gesundheitspolitischer Ebene geschehen?

Eine Umverteilung der Gelder. Unser Gesundheitssystem setzt die falschen Anreize. Krankenhäuser werden privatisiert, um Rendite zu erwirtschaften. Es geht nicht um das Wohl der kranken Menschen, sondern um das der Aktionäre, darum, möglichst viel Geld zu verdienen. Diesem Problem begegnet man in allen Bereichen. Die Fallpauschalen sorgen dafür, dass man in kurzer Zeit viel Patientendurchlauf hat. Ein Patient, der jedes Quartal in die Praxis kommt, ist gewinnbringender als ein gesunder. Und die Preise für die vielen Medikamente, die verschrieben werden, sind in Deutschland enorm hoch. Viel höher als in anderen Ländern. Es ist ein Geschäft mit der Krankheit. So ist unser Gesundheitssystem konstruiert. Das wird sich so schnell nicht ändern.