Berlin-Nein, es ist kein Corona. Wer das im Sommer in Berlin mit Tests überprüft und trotzdem weiter Beschwerden hatte, der brauchte Geduld. Ende Juli etwa, vor einer HNO-Praxis in Prenzlauer Berg. Schon bevor die Sprechstunde um acht Uhr morgens begann, schlängelten sich die Wartenden durchs Treppenhaus. Die meisten in der Schlange waren jünger, unter fünfzig, viele klagten über hartnäckige Erkältungen. Man behandele Nebenhöhleninfektionen, Mittelohrentzündungen, sagte die Sprechstundenhilfe. Der Andrang sei ungewöhnlich – für die Jahreszeit.
In anderen Praxen war der Eindruck ähnlich. Die halbe Stadt schien erkältet. Nun hat die Krankenkasse AOK Nordost ausgewertet, wie viele ihrer Berliner Versicherten sich in diesem Jahr wegen eines Infekts der oberen Atemwege krankgemeldet haben. Die Ergebnisse, die der Berliner Zeitung exklusiv vorab vorliegen, bestätigen den Eindruck aus den HNO-Praxen: Es war ein verschnupfter Sommer. Mit dem Ende des Lockdowns begann in Berlin die Erkältungssaison. Und das mitten im Mai.
Bis Ende April: 57 Prozent weniger Erkältete
Weil einer von fünf Berlinern in der AOK Nordost versichert sei, sei das Ergebnis für die Stadt „annähernd repräsentativ“, teilt die AOK mit. Die Kasse wertete die Krankmeldungen ihrer Versicherten von Januar bis Mitte Juli aus und verglich die Daten mit den Vorjahren. Von Januar bis April meldeten sich 57 Prozent weniger Versicherte wegen einer Erkältung krank. Der Lockdown, der viele nervte und anstrengte, schützte offenbar die Atemwege der Berliner nicht nur vor Sars-Cov-2, sondern auch vor anderen Ansteckungen. Von Mai bis Mitte Juli lag die Zahl der Krankmeldungen wegen Atemwegsinfekten dann nur noch 19 Prozent unter dem Wert der Vorjahre.
Nach Angaben der AOK zeigen zwei Wochen den Lockdown-Effekt geradezu exemplarisch. In der zweiten Märzwoche meldeten sich 1476 AOK-Versicherte in Berlin mit Erkältungen krank. In den Vorjahren waren es fast viermal so viele, der Mittelwert lag bei 5611 Krankgeschriebenen mit Atemwegsinfekt in der zehnten Kalenderwoche. Mitte Juni gab es dann kaum noch einen Unterschied zu den Vorjahren, 1288 AOK-Versicherte waren mit Atemwegsinfekten krankgeschrieben.
Dazu muss man wissen, welche Jahre die AOK zum Vergleich herangezogen hat: 2018 bis 2020. Zwei Jahre ohne Corona und Corona-Schutzmaßnahmen und das erste Pandemiejahr mit einem strengen Lockdown im Frühjahr, in dem aber noch längst nicht jeder Maske trug, schon gar keine FFP2-Masken. Trotzdem haben sich auch 2020 schon viel weniger Berliner erkältet als noch 2019.
RKI registriert „steigende Zahl von Arztbesuchen“
Das kann man an Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) ablesen. Es gibt dort eine „Arbeitsgemeinschaft Influenza“, die Grippewellen beobachtet, aber auch Daten über andere „akute respiratorische Erkrankungen“ sammelt. Entzündungen des Rachenraums, der Bronchien, Lungenentzündungen. Ausgewählte Arztpraxen melden, wie oft Patienten wegen der Infekte in die Sprechstunde kommen, aus den Daten wird ein Praxisindex erstellt, sortiert nach Kalenderwochen (KW). Ab der 15. KW 2020, Anfang April, stürzte der Index für Berlin und Brandenburg geradezu ab.
Der erste Lockdown hatte begonnen, und viele Menschen mieden Arztpraxen, aus Angst, sich mit dem neuen Coronavirus anzustecken. Erst im September 2020 stieg die Zahl der akuten Atemwegsinfekte. 2021, das zeigen die RKI-Daten, hatten schon im Frühjahr mehr Menschen in Berlin und Brandenburg mit entzündeten Rachen und Bronchien zu kämpfen als im ersten Pandemiejahr.
Im Sommer stieg die Kurve im Praxisindex dann über die der Vorjahre. In Berlin und über Berlin hinaus. Ab Ende Juni meldete das RKI für ganz Deutschland eine „steigende Zahl von Arztbesuchen“ wegen der Infekte. Die meisten Patienten, bei denen Abstriche genommen wurden, hatten sich laut Influenza-Monatsbericht des RKI von Mitte Juli mit Rhinoviren angesteckt. Typische Schnupfenviren – die sich vor allem über Schmierinfektionen, also schlecht gewaschene Hände, verbreiten. Das würde erklären, warum die Maskenpflicht, die in geschlossenen Räumen noch gilt, hier kaum vor Ansteckung schützt.
Atemwegsinfekte verbreiteten sich „derzeit fast wieder so stark wie vor der Corona-Pandemie“, sagt Frank Dörner, Allgemeinarzt im Ärztehaus der AOK in der Müllerstraße. Und die kalte Jahreszeit hat noch nicht mal begonnen.


