Berlin-Eine vierte Corona-Impfung schon für ab 60-Jährige: Dafür wirbt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) – auch auf EU-Ebene dringt er auf eine entsprechende gemeinsame Linie. Aktuell arbeiten die EU-Mitgliedstaaten an einer gemeinsamen Empfehlung für eine vierte Corona-Impfung für ältere Menschen. Bei einem Treffen der EU-Gesundheitsminister sei vereinbart worden, in den kommenden Tagen eine „koordinierte Position“ zu finden, sagte der französische Gesundheitsminister Olivier Véran kürzlich in Brüssel. Dabei geht es lediglich um eine Empfehlung, welche die EU-Kommission an die Mitgliedstaaten aussprechen kann. Über die jeweiligen Regeln beim Impfen entscheiden die EU-Länder selbst.
Lauterbach warb jüngst mehrfach dafür, die Altersschwelle von 70 auf 60 Jahre abzusenken. Auch in Brüssel verwies er darauf, dass in dieser Altersgruppe die Sterblichkeit im Vergleich zur dritten Dosis noch einmal um 80 Prozent reduziert werden könne und berief sich auf Daten aus Israel. Die in Deutschland für das Thema zuständige Ständige Impfkommission (Stiko) bleibt bei dem Thema zurückhaltend, Forschende sind skeptisch. Was stimmt nun? Hier eine Übersicht zu den wichtigsten Fragen.
Wie sehen die Empfehlungen zur Viertimpfung bisher hierzulande aus?
Seit Mitte Februar rät die Stiko angesichts der Omikron-Welle bestimmten Gruppen dazu: Menschen ab 70, Bewohnern von Pflegeeinrichtungen sowie Menschen mit Immunschwäche ab fünf Jahren. Wegen der Ausbruchsgefahr sind auch Beschäftigte von Einrichtungen wie Kliniken und Pflegeheimen einbezogen. Bei gesundheitlicher Gefährdung rät die Stiko, die zweite Auffrischung frühestens drei Monate nach der ersten vorzunehmen. Bei Gesundheits- und Pflegepersonal soll es mindestens ein halbes Jahr Abstand sein. In Frankreich zum Beispiel wird die vierte Dosis derzeit für über 80-Jährige empfohlen. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat eine vierte Impfdosis für Menschen ab 50 Jahren genehmigt.
Für Unter-60-Jährige könne die vierte Dosis laut Lauterbach nicht empfohlen werden, weil es dazu keine Daten gebe. Infrage für den zweiten „Booster“ nach einem Grundschutz komme der Impfstoff von Moderna oder Biontech/Pfizer.
Wie viele Menschen sind der Empfehlung bisher nachgekommen?
Der Verlauf könne nicht zufriedenstellen, sagte Lauterbach kürzlich. Allein von den 13,5 Millionen Menschen über 70 Jahren sowie von den Menschen mit Immundefekt seien bisher weniger als zehn Prozent ein viertes Mal geimpft. Daten zum Fortschritt der vierten Impfserie werden vom Robert-Koch-Institut (RKI) bislang nicht veröffentlicht.
Zu den denkbaren Gründen für die niedrige Impfquote bei der Viertimpfung zählt, dass ein an Omikron angepasstes Vakzin immer noch fehlt. Genug von bisherigen Impfstoffen scheint vorhanden: Lauterbach betonte, dass es derzeit viel Impfstoff in Europa gebe, der nirgendwo fehle. Die Abnahme durch einkommensschwächere Länder stocke. „Somit müssen wir befürchten, dass in Europa Impfstoff vernichtet werden muss.“
Wann kommt ein an Omikron angepasster Impfstoff?
Die Entwicklung von Impfstoffen, die an neue Corona-Varianten angepasst sind, verzögere sich seiner Kenntnis nach, sagte Lauterbach. Er rechne im Herbst, womöglich im September, mit den neuen Impfstoffen.
Biontech will nach eigenen Angaben in den kommenden Wochen erste Daten der klinischen Studie veröffentlichen, die mögliche Zulassungsanträge für einen Omikron-basierten Impfstoff unterstützen sollen. „Letztlich werden die Behörden entscheiden, ob und wann eine Genehmigung erteilt wird“, sagte eine Unternehmenssprecherin. „Wir halten uns bereit, unseren Impfstoff bereits im Frühsommer zur Verfügung zu stellen.“
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hatte empört auf Lauterbachs Ankündigung reagiert. „Das ist ein schwerer Schlag für die Impfkampagne“, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch. „Der an die jetzt vorherrschende Omikron-Variante angepasste Impfstoff ist überfällig. Da reicht es nicht, für eine zweite Boosterimpfung der über 60-Jährigen zu werben. Denn das ist kein Ersatz für das schon für April versprochene Vakzin.“
Welche Erfahrungen hat Israel mit dem zweiten Booster gemacht?
Daten zu mehr als 560.000 Menschen zwischen 60 und 100 Jahren, die teils nur dreimal, teils bereits ein viertes Mal geimpft wurden, sind vor einigen Tagen als Preprint erschienen – also noch ohne die bei Studien übliche externe Begutachtung. Ergebnis: Die Sterblichkeit durch Covid-19 sei in der vierfach geimpften Gruppe um 78 Prozent verringert, verglichen mit der Gruppe der nur einmal Geboosterten. Darauf berief sich Lauterbach.
Was steckt dahinter?
Ein genauerer Blick in die Daten zeigt: Die Unterschiede zwischen den verglichenen zwei Gruppen aus drei- beziehungsweise vierfach Geimpften sind minimal, wie der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Reinhold Förster, sagte: „Beide Gruppen haben bei Omikron ein sehr geringes Sterberisiko durch Covid-19.“ Die Angaben zur verringerten Sterblichkeit basierten daher auf relativ kleinen absoluten Zahlen. Ein Beispiel: Bei den 60- bis 69-Jährigen starben laut Preprint fünf der rund 112.000 vierfach Geimpften und 32 der rund 124.000 dreifach Geimpften im Zusammenhang mit Covid-19.
Welche Tücken haben die israelischen Daten noch?
„Es ist ja die Frage, inwieweit die beiden Gruppen vergleichbar sind. Manche dreifach geimpfte Vorerkrankte dürften sich nicht zur Viertimpfung aufgerafft haben, was die Unterschiede bei der Sterblichkeit zum Teil erklärten könnte“, sagte Förster. Darüber hinaus weist das Autorenteam selbst darauf hin, dass sie nur auf eine relativ kurze Zeitspanne von 40 Tagen blicken. Bei der erfassten Todesursache Covid-19 in Krankenhäusern könnten zudem auch Fälle enthalten sein, in denen ein positiver Test ein Nebenbefund ist.
Wie sieht die Stiko den Lauterbach-Vorstoß?
Stiko-Chef Thomas Mertens sagte, dass das Gremium ohnehin ständig neue Daten sichte und die Notwendigkeit von Aktualisierungen prüfe. Die Frage der vierten Dosis lasse sich nicht ausschließlich am Alter der Impflinge festmachen. Vielmehr spielten auch Vorerkrankungen und Überlegungen zum Impfschutz auf längere Sicht eine Rolle. „Anhand bisher verfügbarer Daten kann man aber sagen, dass der zweite Booster offenbar nur bedingt vor Infektion schützt, aber schwere Verläufe in Risikogruppen reduzieren kann.“
Die aktuelle 70-Jahre-Schwelle sei auch durch eine Analyse deutscher Daten zustande gekommen: mit dem Ergebnis, dass das Gros der schweren Erkrankungen und Todesfälle eben in diesem Alter auftrete. Mertens sprach darüber hinaus von zu benennenden Prioritäten: „Ein Hauptproblem bei 60- bis 69-Jährigen auf Intensivstationen besteht im Augenblick in Patienten ohne erste Booster-Impfung, noch schlechterem oder völlig fehlendem Impfschutz.“
Wie bewerten andere Experten die bisherigen Erkenntnisse?
Mehrere Fachleute reagieren zurückhaltend und werten die bisherige Datenlage als dünn. „Eigentlich müsste man abwarten, ob sich die Beobachtung auch in anderen Ländern bestätigt“, sagte die Infektiologin Jana Schroeder. „Auch Daten zur Sicherheit wurden in der israelischen Studie nicht erhoben. Warum sollten wir bei Senioren weniger vorsichtig sein als bei Kindern? Schließlich ist die Corona-Impfung für Fünf- bis Elfjährige in Deutschland immer noch nicht generell empfohlen, trotz mehr als acht Millionen geimpfter Kinder in den USA.“
Kann ein großzügigerer Umgang mit Viertimpfungen Nachteile haben?
Zurückhaltung beim Empfehlen einer vierten Impfung rühre laut dem Immunologen Reinhold Förster auch daher, dass derzeit völlig offen sei, welche Virusvariante in einigen Monaten vorherrscht, welche Impfstoffe es dann gibt und was das wiederum für die Impfempfehlungen zum Winter hin bedeutet. „Bei der Drittimpfung war die Datenlage anders als jetzt, der Nutzen gegen die Delta- und Omikron-Varianten war klar erwiesen“, sagte er. Trotz der neuen Daten bleibt die DGfI nach Försters Worten derzeit der Ansicht, dass für den Aufbau eines langanhaltenden Schutzes vor Covid-19 drei Immunisierungsschritte ausreichen: idealerweise durch drei Impfstoffdosen. Oder durch zwei Impfungen und – wenn unvermeidbar – eine Infektion. „Ein generelles Absenken der Altersschwelle bei der Impfempfehlung ist momentan nicht angezeigt“, sagte er. In Ausnahmefällen könne ein zweiter Booster ab 60 Jahren nachvollziehbar sein, etwa bei Menschen mit unterdrücktem Immunsystem.




