Berlin - Am Dienstag hat Andreas Schöfbeck einen Termin mit dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Der Vorstand der BKK Provita wird Mitarbeitenden der Behörde dann erläutern, wie seine Krankenkasse zu der brisanten Analyse über Nebenwirkungen bei Corona-Schutzimpfungen kam, die seit Tagen im Netz aufgeregt diskutiert wird. Die Verdachtsfälle von Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen, so hatte die gesetzliche Krankenkasse BKK Provita aus Bayern vergangenen Montag gemeldet, müssten demnach weit höher liegen als vom PEI bisher veröffentlicht. „Im Grunde um das Zehnfache höher“, sagt Schöfbeck. Das PEI will dazu nun eine eigene Studie durchführen. „Deshalb das Treffen. Wir wollen uns über die Methodik unserer Analyse austauschen.“
Die Daten von insgesamt 10,9 Millionen Versicherten aller Betriebskrankenkassen sind in einem zentralen Großrechner gespeichert, seit circa 20 Jahren werden sie gesammelt. Sie sind zwar anonymisiert, aber sie sind ein Fundus, sagt Schöfbeck, dessen BKK Provita mit Sitz in Bergkirchen rund 125.000 Mitglieder hat. „Unser Controlling hat die Auswertung zusammen mit einem Datenanalysten vorgenommen, den wir als Dienstleister beauftragt haben“, sagt der Vorstand. Vom ersten bis zur Mitte des dritten Quartals hätten Ärzte für 216.695 Versicherte aller Betriebskrankenkassen Verdachtsfälle auf Nebenwirkungen abgerechnet.
In der Pandemie wurde ein spezieller Code für Corona-Schutzimpfungen eingeführt. „Der ist unter Ärzten allerdings noch nicht so bekannt“, sagt Schöfbeck. Meist nutzen Mediziner die zuvor verwendeten allgemeinen Codes, die zum Beispiel Hautrötungen an der Einstichstelle oder Kopfschmerzen umfassen. Um Unschärfen zu vermeiden, wurde die Zahl der Verdachtsfälle auf Impfnebenwirkungen herausgerechnet, die in den Vorjahren abgerechnet wurden und laut Datenbank relativ konstant bei 12.000 lag. Es sei ihm nicht darum gegangen, einen auf die letzte Kommastelle exakten Wert zu bestimmen, sagt Schöfbeck.
Es gehe vielmehr darum, eine Tendenz zu beschreiben, und die sei stark steigend, so der Provita-Vorstand. Deshalb seien auch mögliche Fehlerquellen zu vernachlässigen, etwa durch falsche Codierung in der Praxis. Zusammenhänge zwischen einzelnen Covid-Vakzinen und der Art von Nebenwirkungen lassen die BKK-Daten nicht zu. Nicht ableiten lässt sich aus den Codierungen zudem, wie schwerwiegend die Nebenwirkungen gewesen sind. „Fest steht“, sagt Schöfbeck, „dass Beschwerden groß genug gewesen sein müssen, um sich an einen Arzt zu wenden“.
Schöfbeck: „Ich kann ethisch nicht mehr anders“
Schöfbeck möchte mit der Analyse einen konstruktiven Beitrag zur Weiterentwicklung der Impfstoffe leisten. „Wenn ich die Diskrepanz sehe zwischen dem, was die Arztpraxen abrechnen und dem, was das Paul-Ehrlich-Institut erfasst, dann glaube ich, dass das klärungsbedürftig ist“, sagt er und erklärt das Prozedere: Das PEI fordere die Ärzte lediglich dazu auf, Verdachtsfälle zu melden. „Sie sollen nicht entscheiden, ob es sich tatsächlich um eine Nebenwirkung handelt“, ergänzt er. „Wenn nahezu alle Verdachtsfälle gemeldet werden, kann das Paul-Ehrlich-Institut am Ende mit dem Hersteller eines Impfstoffs herausfinden, ob es wirklich Auffälligkeiten gibt.“ Und, falls nötig, Korrekturen vornehmen.
„Ich kann ethisch nicht mehr anders“, sagt der Provita-Chef. „Die Diskrepanz hat schließlich Bedeutung für Menschen.“ So sehen das offenbar auch viele andere. An die 500 Zuschriften haben sich in Schöfbecks Postfach angesammelt. „98 Prozent der Mails waren positiv. Ärzte und Analysten haben mir geschrieben und mich in meinem Vorhaben bestärkt.“
Wolfgang Kreischer findet die Zahlen der BKK ebenfalls interessant. Der Vorsitzende des Hausärzteverbands Berlin und Brandenburg sagt zum Thema Impf-Nebenwirkungen: „Jeder Arzt wird mit dem Thema ein bisschen anders umgehen.“ Der Allgemeinmediziner betreibt in Berlin-Zehlendorf selbst eine Praxis und berichtet: „Ein Arm, der nach der Spritze wehtut, ist für mich keine Nebenwirkung, sondern eine Begleiterscheinung.“ Eine unerwünschte Nebenwirkung sei vielmehr eine körperliche Beschwerde, die lange anhält: Long Covid etwa könne nicht nur nach einer Corona-Infektion, sondern auch nach einer Impfung gegen das Virus auftreten. „Patienten berichten dann in erster Linie über Müdigkeit, Abgeschlagenheit und körperliche Schwäche. Bei manchen verschwinden die Beschwerden nach einer Woche“, sagt er. „Bei manchen dauern sie Monate an. In meiner Praxis werden zwei, drei Patienten behandelt, die bereits seit über einem Jahr unter Long-Covid-Symptomen leiden.“
Kreischer: Long Covid kann auch nach der Impfung auftreten
Kreischer geht davon aus, dass eine Infektion häufiger als ein Vakzin lang anhaltende Beschwerden verursache. Doch klar sei auch: Weil immer mehr Menschen immunisiert werden, könne es auch zu immer mehr Fällen von Long Covid nach einer Impfung kommen. „Bei unerwünschten Nebenwirkungen muss man auch genau analysieren“, sagt Kreischer. Im Moment werde vieles vermischt: Die depressive Verstimmung und körperliche Schwäche können auch eine Folge der langen Isolation sein, zum Beispiel im Homeoffice.
„Kommen diese Beschwerden nun wirklich durch die Impfung oder durch was anderes? Da müssen wir eine Diagnostik betreiben, Vorerkrankungen wie eine Schilddrüsenunterfunktion oder Anämie miteinbeziehen“, sagt der Arzt. „Wir müssen im Blut Entzündungswerte anschauen. Wenn Patienten zum Beispiel über Druck in der Brust sprechen, müssen wir sie natürlich zum Kardiologen schicken. All das führt letztendlich zu einer Diagnose.“ Das sei ein neues Krankheitsbild, mit dem Praxen erst einmal lernen müssten, umzugehen.
„Das Paul-Ehrlich-Institut kommt an die verschiedenen Beschwerdebilder, die wir in den Praxen sehen und behandeln, gar nicht ran“, sagt der Zehlendorfer Arzt. Deshalb sei die Untererfassung der PEI-Daten zu den Impfnebenwirkungen wenig überraschend. „Dramatische Nebenwirkungen hingegen werden natürlich dem PEI und auch dem Impfstoff-Hersteller gemeldet.“ Auch Patienten selbst können mögliche Begleiterscheinungen, die nach der Impfung auftreten, an das PEI und die Hersteller vermitteln.




