Das ging voll nach hinten los. Die neuen Corona-Regeln für den Herbst, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit dem geplanten neuen Infektionsschutzgesetz vorstellte, stiften große Verwirrung. Hier werden wieder mal zwei Ebenen vermischt: die politische und die medizinische.
Lauterbach will einen politischen Anreiz zum Impfen generell schaffen, indem er „frisch Geimpften“, deren Spritze nicht länger als drei Monate zurückliegt, eine Maskenbefreiung avisiert. Doch medizinisch hat diese Regel überhaupt keinen Sinn. Es gibt keinen Drei-Monats-Zeitraum, in dem ein Geimpfter nachweislich weniger ansteckend oder besser geschützt ist als etwa ein vor dreieinhalb Monaten Geimpfter. Und eine generelle Impfung alle drei Monate weist auch Karl Lauterbach als „medizinisch unsinnig“ zurück. Es ist also völlig konfus.
Wie oft sollte man sich nun impfen lassen – vorausgesetzt, man hat sich grundsätzlich dafür entschieden? Laut Impfdashboard der Bundesregierung haben bisher 76 Prozent der Bevölkerung zwei Impfungen erhalten. 62 Prozent sind geboostert, also zum dritten Mal geimpft. Studien zeigen, dass diese drei Impfungen bereits recht zuverlässig und auch langfristig schützen, und zwar vor dem, was ganz besonders verhindert werden soll: schwere Verläufe oder gar Tod durch Covid-19.
Auch mit Impfung vor Ansteckung und Krankheit kaum geschützt
„Gegen schwere Erkrankungen bietet die Impfung weiterhin einen guten Schutz“, schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI). „Die Datenlage deutet darauf hin, dass auch hier die Schutzwirkung nach der Grundimmunisierung abfällt, jedoch weniger stark als im Vergleich zu jeglichen bzw. symptomatischen Erkrankungen.“ Wie eine amerikanische Studie zeigte, liegt der Schutz vor einer notwendigen Hospitalisierung zwei Monate nach der dritten Impfung bei 91 Prozent. Nach vier Monaten sind es noch 78 Prozent. Das liegt über den Zulassungserwartungen der EMA. Diese hatte einen 50-prozentigen Schutz als Schwellenwert angesetzt.
Kurz: Wer dreimal geimpft ist, ist auf alle Fälle besser geschützt als Ungeimpfte oder Genesene. Es gebe auch „keine signifikanten Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den verschiedenen Impfstoffen“, heißt es aus dem RKI. Allerdings böten die Impfstoffe von Biontech, Moderna und Johnson & Johnson vor der Omikron-Variante weniger Schutz als vor der Delta-Variante.
Man muss jedoch relativieren. „Die Impfstoffe schützen uns davor, dass die Viren sich nicht so im Körper ausbreiten können, dass man auf die Intensivstation muss und dort künstlich beatmet werden muss“, sagte der Immunologe Andreas Radbruch, Wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum, in einem Interview Ende Juli. „Vor einer Ansteckung ist man nur marginal geschützt, und krank wird man trotzdem.“ Viele Geimpfte erleben Corona-Erkrankungen mit durchaus heftigen Symptomen.
Besonderer Schutz einer vierten Impfung hält nicht lange an
An dieser Tatsache könnte aber keine weitere Impfung etwas ändern, so Radbruch. Denn das Immunsystem funktioniere nicht nach dem Motto „Viel hilft viel“. Man müsse „nicht immer wieder boostern“, denn es gebe ein immunologisches Gedächtnis. Nach einer Impfung oder Infektion verbleibe der Fremdstoff bis zu einem halben Jahr im Körper, bis er beseitigt sei. In dieser Zeit „präzisierten“ die Immunzellen die Abwehr immer mehr. Es bildeten sich sogenannte Plasmazellen, die immer bessere Antikörper absonderten und die im Knochenmark überlebten, auch wenn der Impfstoff schon lange weg sei. „Sie bilden dann ständig Antikörper, die das Antigen sehr gut erkennen und binden. Das funktioniert über Jahrzehnte, oft lebenslang. Die Immunität gegen schwere Erkrankung und Tod hält also, auch wenn die Antikörperspiegel nach der Impfung im Blut nach einiger Zeit abfallen“, sagte Radbruch.
Bei Menschen mit gesundem Immunsystem, die nicht zu Risikogruppen gehören, bringt eine vierte Impfung wenig, so lauten Erkenntnisse aus Studien. Zwar stellte eine israelische Untersuchung Anfang August fest, dass eine vierte Impfung mit einem mRNA-Impfstoff bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens die Häufigkeit von Durchbruchinfektionen von 20 Prozent auf sieben Prozent senkte. Der Untersuchungszeitraum umfasste allerdings nur die folgenden vier Wochen. Und vor allem: Keiner der Studienteilnehmer in elf israelischen Kliniken erkrankte schwer – ob bei drei oder vier Impfungen.
Eine weitere israelische Studie untersuchte die Daten von mehr als einer Million Israelis, die 60 Jahre und älter waren. Folgendes ergab sich: Von 100.000 dreifach Geimpften erkrankten 3,9 Menschen schwer an einer Infektion mit der Omikron-Variante von Corona. Unter 100.000 vierfach Geimpften gab es nur 1,5 schwer Erkrankte. Allerdings hält der Schutz der vierten Impfung nur kurz an. Bereits nach vier Wochen gehe er wieder zurück, hieß es zum Ergebnis der Studie. Und nach acht Wochen sei zwischen drei- und vierfach Geimpften kein signifikanter Unterschied mehr beim Infektionsschutz erkennbar. Der Schutz vor einem schweren Verlauf bleibe aber bei beiden Gruppen hoch.
Immungedächtnis durch Boostern reaktivieren – doch wie oft?
Allerdings gibt es auch Stimmen wie die des Immunologen Andreas Thiel von der Berliner Charité. Dieser sagt, dass „das Immungedächtnis durch eine Auffrischungsimpfung reaktiviert“ werde. Davon profitierten auch Jüngere, indem sie „ihr Long-Covid-Risiko wahrscheinlich nochmals senken“ könnten. Dem widerspricht der Immunologe Andreas Radbruch. „Wird der Impfstoff systemisch verabreicht, wie die Covid-19-Impfstoffe, fangen die Antikörper das Antigen ab, bevor es eine erneute Immunreaktion auslösen kann“, erklärt er. „Das sieht man bereits nach der vierten Impfung mit Moderna- oder Biontech-Impfstoffen.“ Man könne vorhersagen, „dass viele Jüngere auf die vierte Impfung gar nicht mehr ansprechen, und die meisten dann bei der fünften Impfung nicht mehr ansprechen“.
Wer sollte sich dennoch impfen lassen – mit Blick auf eine mögliche Corona-Welle im Herbst und Winter? Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt eine Auffrischimpfung für „besonders gefährdete Personen“. Dazu zählt sie Menschen ab 70 Jahren, Bewohner und Betreute in Pflegeeinrichtungen, Menschen mit Behinderungen und Immunschwäche. Genau für diese Gruppe wird auch eine Impfung „mindestens drei Monate“ nach der letzten Impfung empfohlen. Für andere – etwa das Personal in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen – werden „frühestens sechs Monate“ angesetzt, mit Ausnahmen. Man fragt sich also, woher Karl Lauterbach seine allgemeine Regel hat, dass man nur als „frisch geimpft“ gilt, wenn die Impfung nicht länger als drei Monate her ist.
Bei jeder Impfung zwischen Nutzen und Risiken abwägen
Ob man sich impfen lassen sollte, muss jeder mit dem Hausarzt klären. Die Stiko-Empfehlung für ab 70-Jährige ist ein Richtwert. Genauso sind es die 60 Jahre, auf die Lauterbach oder die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) orientieren. „Immunologisch wird es davon abhängen, wie gut die einzelne Person auf die ersten drei Impfungen reagiert hat, unabhängig von ihrem Alter“, sagt Andreas Radbruch. Von einer vierten Impfung profitierten vor allem „diejenigen, deren immunologisches Gedächtnis gegen Sars-CoV-2 nach drei Impfungen (und eventuell Infektion) noch unterentwickelt ist“. Das seien aber wenige. Ihr Immunstatus könne gemessen werden. Möglicherweise bräuchten sie auch eine prophylaktische Antikörperbehandlung.
Radbruch gehört zu jenen, die dafür plädieren, bei Impfungen zwischen Nutzen und Risiken abzuwägen. Bei jeder Impfung könne es zu Entgleisungen kommen, sagt er, in seltenen Fällen sogar mit der Folge einer Autoimmunerkrankung. „In einer israelischen Studie hatten 40 von 100 viermal Geimpften Nebenwirkungen, die den ganzen Körper betrafen, zum Beispiel Fieber“, so der Immunologe. „Unsere mRNA-Impfstoffe sind super gut. Man sollte sie aber einsetzen, wie jedes andere Medikament auch: gezielt und sparsam.“





