Berlin-Die neue Generation ist schon da. Den Herbst und Winter hatte sie in den Kronen von Eichen verbracht. Im Frühjahr ist sie geschlüpft, und bis Juli hat sie vor allem eins im Sinn: sich Nacht für Nacht ausgiebig mit Blättern vollzustopfen. Mit ihrer Gefräßigkeit haben sich die Raupen des Eichenprozessionsspinners, die man oft in langen Kolonnen die Bäume hinaufkriechen sieht, als Forstschädlinge unbeliebt gemacht. Doch damit nicht genug: Wegen ihrer giftigen Haare gelten sie auch noch als Gefahr für die menschliche Gesundheit. Da wüsste man schon gern, was von diesen Plagegeistern in Zukunft zu erwarten ist.
Also werden ihnen Wissenschaftler der Universität Göttingen in den nächsten drei Jahren genauer auf den Zahn fühlen. RiMa nennt sich das im Januar gestartete Projekt. Es steht für „Risikobewertung, Überwachung und Auswirkungen von Massenvermehrungen des Eichenprozessionsspinners in Eichen(misch)wäldern“ und wird von der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe getragen sowie vom Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. „Vor allem wollen wir besser verstehen, wann, wo und warum sich diese Insekten massenhaft vermehren und Schaden anrichten“, erklärt Carsten Thies vom Umweltforschungslabor N-Lab in Winsen, der als Kooperationspartner bei RiMa mitarbeitet. „So soll eine Art Frühwarnsystem entstehen.“
„Große Verwüstungen“ schon um 1811
Die dafür nötigen Daten erheben die Forscher in Brandenburg, das mit seinen trockenen Böden und geringen Niederschlägen als eine Art Modellregion für die möglichen Folgen des Klimawandels gilt. Experten befürchten nämlich, dass der Eichenprozessionsspinner als wärmeliebende Art von den steigenden Temperaturen profitieren könnte. Tatsächlich verzeichnen Fachleute etwa seit 1993 ein verstärktes Auftreten der Art in Deutschland. Vor allem im Nordosten und Südwesten, in Franken sowie in Teilen Nordrhein-Westfalens krochen die Tiere zeitweise in Scharen durch die Bäume.
Massenentwicklungen des unscheinbaren Nachtfalters und seines Nachwuchses hat es allerdings auch schon früher gegeben – wenn auch nicht in diesem Ausmaß. „In unseren Eichwäldern hält sich eine Art von graufarbigen haarigen Raupen auf, die … in ganzen großen Zügen dicht aneinander und aufeinander von einem Baum zum anderen wandern“, berichtete der Schriftsteller Johann Peter Hebel schon im Jahr 1811. Er schilderte nicht nur die „großen Verwüstungen“, die das hungrige Heer an den Bäumen anrichte. Eindringlich warnte er auch davor, die Tiere zu berühren: „Sie dulden es nicht ungestraft, wenn sie sich rächen können.“

Ist die Gesundheit von Menschen in Gefahr, müssen Eichenprozessionsspinner direkt bekämpft werden. Man kann die Raupen und Nester zum Beispiel von den Bäumen absaugen, muss dabei aber spezielle Gefahrstoff- oder Asbestsauger mit entsprechenden Filtern verwenden und Schutzkleidung samt Atemmaske tragen. Die beseitigten Nester müssen mindestens einen halben Meter tief vergraben oder in einer geschlossenen Anlage verbrannt werden. Im Wald kommen mitunter auch chemische Bekämpfungsmittel zum Einsatz, die von Hubschraubern aus versprüht werden. Naturschützer kritisieren diese Methode allerdings wegen ihrer ökologischen Nebenwirkungen.
Tatsächlich kann so eine Begegnung sehr unangenehme Folgen haben. Vor allem ältere Raupen besitzen unzählige hohle Haare, die bei Berührung sehr leicht abbrechen. Dann setzen sie ein Nesselgift namens Thaumetopoein frei, das heftigen Juckreiz und Entzündungen von Haut, Schleimhäuten und Augen sowie Fieber und Schwindelanfälle auslösen kann. In Einzelfällen ist sogar ein allergischer Schock möglich. Wer die Haare einatmet, muss mit Atembeschwerden, Bronchitis oder Asthma rechnen. Und selbst ausgefallene Exemplare, die in den selbst gesponnenen Nestern der Raupen herumliegen oder vom Wind verweht werden, sind noch gesundheitsschädlich. „Zusammen mit Medizinern werden wir im Rahmen des Projekts untersuchen, was genau beim Kontakt mit diesen Haaren passiert“, sagt Carsten Thies.
Auch die Konsequenzen für die befallenen Bäume wollen er und seine Kollegen genauer unter die Lupe nehmen. „Wenn eine alte Eiche zwei Jahre hintereinander kahlgefressen wird, kann sie durchaus absterben“, erklärt der Forscher. Und selbst wenn nicht, müssen sich Förster womöglich auf eine geringere Holzproduktion der geschwächten Bäume einstellen.
Viele Faktoren könnten eine Rolle spielen
Dieses Problem aber dürfte nicht überall in gleichem Ausmaß auftreten. So gibt es bereits Hinweise darauf, dass vitale Bäume auf guten Standorten den Befall besser wegstecken als Artgenossen, die auf armen Sandböden ohnehin schon ums Überleben kämpfen. „Die Frage ist also, ob man in Zeiten des Klimawandels auf schlechten Böden überhaupt noch Eichen pflanzen kann“, sagt Carsten Thies. Es nützt schließlich nichts, wenn die Bäume zwar die Trockenheit vertragen, dafür aber vermehrt den gefräßigen Raupen zum Opfer fallen.
Ob es tatsächlich so kommen wird, ist bisher allerdings noch nicht absehbar. Denn keiner weiß, was genau die Vorkommen der Nachtfalter fördert und warum manche Eichenwälder stärker befallen werden als andere. Neben dem Klima, der Wasserversorgung und dem Nährstoffangebot können dabei noch eine ganze Reihe von weiteren Faktoren eine Rolle spielen. So scheinen die Tiere eine Vorliebe für lichte Eichenwälder mit vielen sonnigen Flächen zu haben. Und Parkbäume sind generell stärker gefährdet als solche im Wald.
Mehr Klarheit sollen nun die neuen Untersuchungen liefern, bei denen die Forscher in ganz Brandenburg Prozessionsspinner-Vorkommen samt den zugehörigen Umweltfaktoren erfassen wollen. Dabei erproben sie auch den Einsatz von Drohnen, die mit Multispektralkameras ausgerüstet sind. „Die ersten Tests dieser Technik haben vielversprechende Ergebnisse gebracht“, berichtet Carsten Thies. So hat sich gezeigt, dass befallene Bäume Strahlung im nahen Infrarotbereich weniger stark reflektieren als gesunde Artgenossen. Das hängt mit ihrer geringeren Fotosynthese-Aktivität und Fitness zusammen. Wenn also auf den Infrarotbildern einer Region vermehrt Gelb- statt Rottöne auftauchen, könnte das ein früher Hinweis auf einen Befallsherd sein.
Für die Prognose künftiger Prozessionsspinner-Probleme müssen die Forscher allerdings auch wissen, wie sich die Insekten von solchen Stützpunkten aus weiter verbreiten. Erfahrungen aus Berlin, wo das Pflanzenschutzamt die Vorkommen der Tiere schon seit 2006 überwacht, liefern dazu bereits erste Erkenntnisse. Demnach kommt der Großteil der Population von einem Jahr zum nächsten nur ein paar Hundert Meter weit voran. Manchmal aber werden die erwachsenen Falter auch mit dem Wind verweht. Dann werden plötzlich bis zu 15 Kilometer entfernt von den bekannten Vorkommen neue Bäume befallen.
Leichter Rückgang der Populationen
In Berlin haben sich die Insekten auf diese Weise immer weiter von Westen nach Osten ausgebreitet. Seit 2012 verzeichnet das Pflanzenschutzamt in allen Bezirken Raupen, Nester und erwachsene Falter in unterschiedlicher Stärke. In den letzten Jahren schien die Population dabei auf dem aufsteigenden Ast zu sein. Wurden der Berliner Behörde 2019 noch 632 befallene Eichen an 255 Standorten gemeldet, waren es 2020 schon 460 Standorte mit 1800 betroffenen Bäumen. Allerdings flatterten im Juli 2020 deutlich weniger erwachsene Falter durch die Hauptstadt. Das könnte nach Einschätzung des Pflanzenschutzamtes an den kühlen Nachttemperaturen gelegen haben. Es könnte aber auch sein, dass die Population tatsächlich wieder schrumpft.

