Kommentar

Druck auf Ungeimpfte? Wie wäre es, zuerst die Alten ordentlich zu impfen?

Wie immer werden die Pflegebedürftigen zu Hause vergessen, als seien sie nicht in der Mehrzahl – in Berlin gibt es Probleme mit der Auffrischungsimpfung.

Zu wenig Impfstoff ist schon lange nicht mehr das Problem – warum hat es dann ausgerechnet die vulnerabelste Gruppe mitunter so schwer, an die Auffrischungsimpfung zu kommen? 
Zu wenig Impfstoff ist schon lange nicht mehr das Problem – warum hat es dann ausgerechnet die vulnerabelste Gruppe mitunter so schwer, an die Auffrischungsimpfung zu kommen? Imago

Berlin-So langsam sieht es danach aus, als nehme die lange schon attestierte vierte Welle Fahrt auf. Die deutschlandweite Sieben-Tage-Inzidenz erreichte am Wochenende erstmals seit Frühling wieder die magische Marke 100. In Bayern lag sie bei über 150, in Thüringen bei knapp 200. In Berlin lag sie am Sonntag knapp über 115.

Zwar ist die Hospitalisierungsrate mit 2,5 noch recht niedrig – verglichen mit Weihnachten 2020 (15,5). Doch das war vor der Impfung. Und nachdem unter dem Eindruck der rasant steigenden Zahlen der Pandemiewellen des vergangenen Jahres auch für diesen Herbst schon lange mit hohen Inzidenzen gerechnet wurde, die bisher ausblieben, gerät aufgrund des nun kälteren Wetters und der steigenden Zahlen die dritte Impfung vermehrt in den Fokus. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte es mal wieder besonders eilig und sie schon im August für Über-60-Jährige empfohlen. Die Ständige Impfkommission zog vor einer Woche nach und empfahl sie nun erst einmal für Menschen ab 70 und solche mit einem geschwächten Immunsystem.

Auf der anderen Seite wird zunehmender Druck auf solche ausgeübt, die bisher gänzlich ungeimpft sind: Weil es Wirten und Veranstaltern selbst überlassen wird, ob sie nun 2G oder 3G in ihren Räumlichkeiten einführen, ist 2G für viele Anbieter die wirtschaftlich interessantere Variante. Und da auch noch die Gratis-Tests für weite Teile der Bevölkerung abgeschafft wurden, sehen sich viele Ungeimpfte einem Impfzwang durch die Hintertür ausgesetzt, wenn sie weiter am sozialen Leben teilnehmen möchten.

Ungeimpft bleibt man nicht immer freiwillig

Wir haben schon zahlreich über Menschen berichtet, die aus diversen Gründen nicht geimpft werden können oder wollen und sich ungerecht behandelt fühlen. Was aber ist mit solchen, die gerne geimpft würden und es von sich aus nicht organisieren können?

Die Berliner Zeitung berichtet in der heutigen Ausgabe von solch einem Fall – einem 89-jährigen Pflegebedürftigen, der zu Hause lebt und dessen Angehörige langsam verzweifeln, weil sie in Berlin niemanden finden, der ihn aktuell impft. Die Kasse zahlt offenbar auch keinen Krankentransport zum Impfzentrum – und das, obwohl seine Hausärztin aufgrund seines Gesundheitszustandes dringend die dritte Impfung empfiehlt und auch die Politik Druck macht bezüglich der Auffrischungsimpfung. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci ließ schon im September rund 200.000 Einladungsschreiben an über 80-jährige Berliner versenden und appellierte: „Bitte lassen Sie sich impfen! Es geht um Ihren Schutz und den Ihrer Mitmenschen. Nutzen Sie die kostenlosen Taxifahrten.“

Impfung impossible

Von Ruth Schneeberger

25.10.2021

Es ist schon merkwürdig, wie in dieser Pandemie seit Anbeginn alle möglichen Akteure auf ihre Rechte und Pflichten und Bedürfnisse hinweisen, darüber aber immer und immer wieder ausgerechnet diejenigen vergessen werden, die das alles am meisten bedroht: die Pflegebedürftigen. Erst waren es die in den Heimen, die daraufhin zu Zigtausenden dem Coronavirus zum Opfer fielen und starben, weil aufgrund schon vorher geltenden Pflegemangels die Hygienemaßnahmen völlig unzureichend waren. Nun, da unter diesem Schock in den Heimen erst die Masken, dann die Tests und schließlich die Impfungen priorisiert wurden, sind es stattdessen Pflegebedürftige zu Hause, die nach wie vor viel zu oft darum betteln müssen, gesehen und geimpft und ausreichend versorgt zu werden.

Dabei sind diese in der Mehrzahl: Nur ein Viertel der rund 4,5 Millionen Pflegebedürftigen lebt überhaupt in Heimen, die anderen werden zu Hause versorgt. Dass diese je nach Pflegegrad nicht einfach fröhlich gratis in ein Taxi steigen und sich zum Impfzentrum chauffieren lassen können, wird zu oft einfach nicht mitgedacht. Wie so vieles in der Pflege sich eher an Helfenden oder Organisatoren orientiert als an den Bedürfnissen der Alten und Kranken.

Wo sind die mobilen Impfteams, wenn man sie braucht?

Auch wer weder zu Hause noch im Pflegeheim versorgt wird, sondern etwa in einer medizinischen Einrichtung, kann kaum geimpft werden – weil die dortigen Regeln das nicht vorsehen. Mein Vater beispielsweise, über 75 und schwer erkrankt, befindet sich seit Februar bis auf wenige Wochen zu Hause immer wieder in Kliniken und Reha-Einrichtungen – und konnte dort bis auf eine Ausnahme, die ein junger Assistenzarzt gemacht hat, nie geimpft werden. Deshalb hat er bisher nur eine einzige Dosis erhalten, von einer Drittimpfung kann er nur träumen. Die Antwort auf meine Frage nach der Impfung lautete stets: Wir impfen hier unsere Mitarbeiter, aber nicht die Patienten.

Solange Zustände wie diese herrschen, und zudem die Gratis-Tests abgeschafft wurden, muss sich die Politik nicht darüber wundern, dass trotz Impfkampagne die Zahlen steigen, sowie weitere unnötige Covid-19-Tote in Kauf genommen werden. Denn es trifft immer zuerst die Schwächsten.