Kommentar zur Corona-Krise

Der Ruf nach harten Beschränkungen für Ungeimpfte ist gefährlich

Im Kampf gegen die Pandemie wird eine Gruppe zum Kernproblem ernannt. Druck aber erzeugt Gegendruck. Die Konsequenz lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen.

Ungeimpfte müssen draußen bleiben: Eine Anzeigetafel empfängt Besucher eines Lokals in Beelitz.
Ungeimpfte müssen draußen bleiben: Eine Anzeigetafel empfängt Besucher eines Lokals in Beelitz.imago

Um Missverständnisse auszuschließen: Schutzimpfungen sind in der momentanen Pandemie wichtig, weil die stärkste Waffe im Kampf gegen das Coronavirus. Eine Impfpflicht steht daher zur Debatte. Eine, die sich auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt, etwa in der Pflege. Diskutiert wird aber bereits auch eine Pflicht für alle. Die politisch Verantwortlichen nehmen davon bisher Abstand. Aus guten Gründen.

Der logistische Aufwand ist hoch. Schon jetzt stellt die Nachfrage nach dem Vakzin das System vor eine große Herausforderung. Ebenso herausfordernd dürfte sich eine Abwägung von Grundrechten gestalten. Ganz abgesehen davon, dass das Thema Impfpflicht in Deutschland emotional sehr stark besetzt ist. Dadurch erhält die Debatte ihr Gewicht. Die Art, in der sie geführt wird, gerät zu einem eindrücklichen Symptom. Sie steht für eine Krankheit, die immer stärker zu beobachten ist, je weiter die Pandemie fortschreitet und ihr Ende außer Sichtweite gerät: Die Gesellschaft hat sich in eine Art Corona-Kollektivismus ergeben. Die Belange des Kollektivs werden weit über die Interessen des Individuums gestellt.

Das ist erstaunlich für eine Gemeinschaft, die ansonsten die Freiheit jedes einzelnen in seiner Entscheidung akzeptiert und propagiert. Bis hin zu der Wahl des eigenen Geschlechts. Gefährlich wird es, wenn der Kollektivismus in Paternalismus umschlägt mit dem Ruf nach einer starken Hand, die durchgreift, um der Krise endlich ein Ende zu setzen. Die Tendenz dazu lässt sich beobachten. Sie ist die Folge einer schwachen Politik, die in der Pandemie auf Sicht fährt und nicht nach einem klaren Plan vorgeht. Sie weckt teils falsche Hoffnungen, zuletzt im Sommer, als der Eindruck entstand, die Pandemie sei beherrschbar.

Die Infektionszahlen gingen zurück, die Intensivstationen leerten sich, Corona-Patienten waren dort in der Minderheit. Doch die Katastrophe zeichnete sich ab. Wissenschaftler warnten vor dem Winter und einer heraufziehenden vierten Welle. In den Krankenhäusern verabschiedete sich das Pflegepersonal, erschöpft, desillusioniert, in den Krankenstand, in die Teilzeit oder gleich ganz aus dem Beruf. Spätestens jetzt wäre der Moment gekommen, um Versäumnisse der Vergangenheit zu analysieren, Konzepte zu präsentieren, wie der Flucht von Fachkräften entgegenzuwirken, dem Systemfehler beizukommen ist.

In der Impf-Debatte werden Barrikaden errichtet, keine Hürden abgebaut

Stattdessen Schweigen darüber – und in Berlin ein zähes Ringen der Beschäftigten mit den Geschäftsführungen der Landeskliniken um dringend nötige Entlastung, begleitet von scheinheiligen Einlassungen politisch Verantwortlicher. Auf Bundesebene beklagten Gesundheitsökonomen unverdrossen einen Überfluss in der stationären Versorgung, wurden im Hintergrund weiter Kliniken geschlossen – und werden es noch.

Wieder deckt das Coronavirus eine Fehlentwicklung auf: Die Gesellschaft verlernt, Probleme bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen. Sie ergeht sich in erregten öffentlichen Debatten über Details, streitet über Randaspekte. Die Folge ist ein kommunikatives Desaster, das Teile der Bevölkerung in die Verunsicherung treibt. Lediglich ein Viertel derjenigen, die bisher eine Schutzimpfung gegen Covid-19 ablehnten, sind laut Schätzungen fest entschlossen, dies auch weiterhin zu tun. Die übrigen 75 Prozent bleiben hinter einer Barriere zurück, sozial, sprachlich, kulturell, jedenfalls informationell. Eine Hürde, die niemand für sie abräumt. Das Gegenteil ist der Fall: Im öffentlichen Diskurs werden Barrikaden errichtet. Auf der einen Seite die Geimpften, die Guten, auf der anderen die Ungeimpften, das Übel. Sie werden als das Kernproblem benannt, als verirrte Seelen, verwirrte Geister, die zu disziplinieren seien: ausgesperrt, eingesperrt, ob mit 2G beim Friseur oder einem Lockdown Wiener Art.

Das Phänomen tritt flächendeckend auf, nicht nur in Nischen der sozialen Netzwerke. In einer als links eingestuften Tageszeitung sah dieser Tage ein österreichischer Kolumnist den Lockdown für Ungeimpfte in seiner Heimat als nachvollziehbare Konsequenz an. Ein Dialog sei sinnlos, Argumentieren nicht mehr nötig. Pauschal wird eine elementare demokratische Spielregel außer Kraft gesetzt.

Druck aber erzeugt Gegendruck. Die Konsequenz daraus lässt nichts Gutes ahnen für eine Zeit nach der Corona-Krise, wann immer sie anbrechen mag. Gruselig ist die Vorstellung, in Deutschland könnte wieder dieser Ruf konsensfähig werden: Weg mit ihnen!