Berlin-Es sind vor allem Bilder aus den USA, die beunruhigen, Angst einflößen. Kleine Körper, die angeschlossen sind an Dutzende Kabel und große Monitore, wie ein Foto von einem erst zwei Monate alten Kind in einem Krankenhaus in Louisiana, veröffentlicht von der New York Times. Kinderkliniken in vielen US-Bundesstaaten verzeichnen seit einigen Wochen einen rapiden Anstieg der Patientinnen und Patienten mit schweren Corona-Verläufen. Pädiatrische Spezialisten berichten, dass die Kranken immer jünger würden, viel härter als in der Vergangenheit von Corona betroffen seien. Von einer „Epidemie der Jüngsten“ wird gesprochen. Eine Warnung für Deutschland?
„Wir können in keiner Weise von einer bedrohlichen Situation sprechen“, sagt Jörg Dötsch, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln. „Im Moment werden bundesweit nach dem Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie zwischen zehn und 15 Kinder pro Woche mit Corona aufgenommen – bei mehr als 300 Kinderkliniken im ganzen Land ist das eine sehr geringe Anzahl“, sagt der Mediziner weiter. Im gesamten Monat August sei demnach ein Kind mit einem schweren Covid-19-Verlauf auf einer deutschen Intensivstation behandelt worden. In Nordrhein-Westfalen – dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit der höchsten Inzidenz Deutschlands – sei die Situation etwas angespannter. „In Köln zum Beispiel haben wir in der Altersgruppe der Schulkinder eine Inzidenz von 400. In unserer Klinik muss aktuell ein Kind wegen einer Corona-Erkrankung stationär behandelt werden, aber ihm geht es gut“, so Dötsch weiter.
Absolute Fallzahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeigen, dass in der 33. Kalenderwoche 2021 bei insgesamt 54 Kindern zwischen null und vier Jahren, bei 42 Kindern zwischen fünf und 14 Jahren und bei 296 Jugendlichen und Erwachsenen zwischen 15 und 34 Jahren „eine Hospitalisierung vorlag“. „In die Daten werden die jungen Menschen aufgenommen, weil bei ihnen ein positiver Sars-CoV-2-Befund festgestellt wurde. Aber ein Test, der positiv ausfällt, bedeutet nicht automatisch, dass die Kinder auch Corona-spezifische Symptome entwickeln. Diese Differenzierung zwischen Befund und Krankheit wird in den Daten nicht gemacht“, erklärt der Kölner Klinikdirektor. Mit anderen Worten: Im Krankenhaus wird bei einem Kind, das zum Beispiel wegen Verdacht auf eine Blinddarmentzündung eingewiesen wird, standardisiert ein Corona-Test gemacht. Der fällt positiv aus und taucht in der RKI-Tabelle auf. Der positive Abstrich bedeutet nicht, dass das getestete Kind akut an Corona erkrankt ist.
Eine Schätzung sei, dass auf zehn Kinder mit einem positiven Abstrich ein Kind mit Covid-19-Erkrankung komme, so Dötsch. „Das stimmt dann auch mit unserer Beobachtung von zehn bis 15 Kindern in der Woche überein“, sagt er.
Charité: Kein Kind von akuter Sauerstoffunterversorgung betroffen
In Berlin sieht die Situation ähnlich entspannt aus. „Auch nach unseren Erfahrungen sind schwere Verläufe sehr selten“, erklärt Marcus Mall, Direktor der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin der Charité. „Im gesamten Jahr 2020 hatten wir nur 37 positiv getestete Kinder in der Klinik, die meisten wurden aufgrund anderer Erkrankungen aufgenommen. Nur etwa die Hälfte zeigte Covid-19 Symptome“, sagt er. Sechs Patienten hätten über einige Tage eine Sauerstofftherapie benötigt, die meisten von ihnen hatten chronische Grunderkrankungen oder Risikofaktoren wie Übergewicht.
Die Situation passe auch zu den Ergebnissen von epidemiologischen Studien in Großbritannien, wo schwere Verläufe bei Kindern bislang extrem selten waren, wie es im Kommentar des Fachmagazins Nature zum Beispiel heißt. Eine mögliche Erklärung bestehe darin, so Mall, dass das Immunsystem der Atemwegsschleimhaut bei Kindern die Infektion deutlich besser abwehren könne.
Susanne Lau, Stellvertretende Direktorin der Klinik fügt an, dass jüngst ein achtjähriges Kind mit PIMS, einer entzündlich Post-Coronainfektions-Erkrankung, intensivmedizinisch behandelt werden musste. Die Abkürzung PIMS steht für Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome. Multisystemisch bedeutet, dass die Entzündung mehrere Organe des Körper betrifft. Etwa zwei bis sechs Wochen nach der Infektion entwickelt eines von 1000 bis 1500 Kindern hohes Fieber, einen Ganzkörperausschlag, rote Lack-Lippen, Entzündungen an mindestens zwei Organen, die unter anderem auch zu Durchfall, Übelkeit oder Erbrechen führen. Die gefürchtetste Komplikation dieser Erkrankung sei eine Aussackung der Herzkranzgefäße.
Eine typische Covid-19-Erkrankung würde es auf der pädiatrischen Station der Charité zurzeit nicht geben, so Lau. Kein Kind und kein Jugendlicher sei derzeit von einer akuten Unterversorgung mit Sauerstoff betroffen.
Bislang seien dem RKI 23 validierte Covid-19-Todesfälle bei unter 20-Jährigen übermittelt worden. Diese Kinder und Jugendlichen seien zwischen null und 19 Jahre alt gewesen, 16 hätten bekannte Vorerkrankungen gehabt. Die Todesfälle bei unter 20-Jährigen würden einzeln vom RKI geprüft und validiert, sodass es noch zu Veränderungen kommen kann.
Entwicklung in den USA hat mehrere Gründe
Wieso die Lage in den USA so viel dramatischer ist als in Europa – dafür hat der Kinderarzt Jörg Dötsch mehrere Erklärungen: „In den Vereinigten Staaten gibt es zum einen große hispanische und afroamerikanische Bevölkerungsgruppen, die im Vergleich zu weißen Bevölkerungsgruppen erheblich schwerere Covid-19-Verläufe haben“, sagt er. „Warum das so ist, das weiß man noch nicht ganz genau.“ Dort gebe es auch viel mehr Menschen mit Adipositas. Von schwerem Übergewicht seien auch viele Kinder und Jugendliche betroffen – ein großer Risikofaktor für einen ernsten Krankheitsverlauf.
„Ein weiterer Grund: Die USA haben zwar in der Spitze ein sehr gutes Gesundheitssystem, aber nicht für die Breite der Bevölkerung. Für arme Menschen und solche ohne Versicherung zum Beispiel ist der Zugang zu einer gesundheitlichen Versorgung extrem erschwert.“ Deshalb würden sie gar nicht oder zu spät zum Arzt gehen, in der Corona-Krise habe sich die Situation zugespitzt. Auch die Datengrundlage sei dort oft lückenhaft. „Es gibt große regionale Unterschiede, was zum Beispiel die Inzidenzen angeht. Mancherorts kennt man diese überhaupt nicht. Entsprechend spät werden Maßnahmen ergriffen.“ Das spiegele sich auch in der Bereitschaft der Bevölkerung wider, die Lage ernst oder weniger erst zu nehmen.
„Eltern sollten darauf achten, ob ihr Kind schwer atmet“
Wie wird sich die Situation in Deutschland nun entwickeln? Im Moment liegt die Hauptursache, dass ein junger Mensch mit einer Erkrankung stationär aufgenommen werden muss, nicht bei Sars-CoV-2, sondern bei anderen Atemwegserkrankungen wie der Infektion mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus. Das RS-Virus verursacht bei Erwachsenen und älteren Kindern erkältungsähnliche Symptome wie Schnupfen, Husten oder Halsschmerzen und Fieber. Bei Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von drei Jahren kann eine Infektion allerdings schwerer verlaufen und zu einer Entzündung der kleinen Bronchien oder einer Lungenentzündung führen.



