Berlin-Ende August hat die Wissenschaftsjournalistin und Diplom-Biologin Cornelia Stolze für die Berliner Zeitung einen Text über Genesene geschrieben. Sie kritisierte darin, dass es wissenschaftlich nicht viel Sinn mache, dass von einer Corona-Infektion Genesene lediglich für ein halbes Jahr als geschützt gelten und sie sich impfen lassen müssen, um ihre Rechte und Freiheiten zurückzubekommen. Ihr Argument: Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass eine durchgestandene Infektion eine langfristige, womöglich lebenslange Immunität verleihe. Auch davon, dass der Immunschutz sechs Monate nach der Infektion verschwunden sei, könne keine Rede sein. Stolze kritisierte zudem, dass in Deutschland ein Antikörpertest nicht als Immunitätsbescheinigung anerkannt werde. Der Artikel stieß auf großen Andrang, wurde hundertfach geteilt. Der Berliner Molekularbiologe Emanuel Wyler hat sich den Artikel genauer angesehen – und widerspricht. Ein Gastbeitrag.
September 2021, ich stehe auf dem Alexanderplatz für einen Impf-Infostand und spreche mit Passantinnen und Passanten über die Corona-Impfung. Viele von ihnen sind schon geimpft oder haben bald ihren Impftermin. In den Gesprächen mit den Zögerlichen und Ungeimpften merke ich vor allem viel Unsicherheit. Ein junger Mann sagt, er wolle sich nicht impfen lassen, weil er gehört habe, man werde danach schwer krank. Dann könne er ja gleich das Virus über sich ergehen lassen?, fragt er. Die Antwort: Ja, es kann gut sein, dass man nach der Impfung ein paar Tage schlapp ist, Fieber hat oder auch Gliederschmerzen. Aber, und das ist auch der Grund, warum die Impfung überhaupt zugelassen und empfohlen wurde: Das Risiko einer schweren Krankheit ist bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 viel größer.
Die Bereitschaft zur Impfung in der Bevölkerung zu erreichen, ist die wirklich herausfordernde gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Die Begegnung zeigt: Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist die Art und Weise, wie ein Impfstoff wirkt, sehr einfach. Das gilt auch für die neueste Generation, die sehr wirksamen und weltweit milliardenfach angewandten RNA-Impfstoffe. Aber, wie der bekannte Berliner Pathologe Rudolf Virchow nach einer Fleckfieber-Epidemie im Jahr 1848 so treffend wie zeitlos feststellte: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Auf die heutige Situation angewandt: Das Schwierigste war nicht, aufbauend auf Jahrzehnten von Forschung, den Corona-Impfstoff zu entwickeln. Der soziale und politische Teil, nämlich das notwendige Vertrauen der Menschen in die medizinische Forschung und die Bereitschaft zur Impfung in der Bevölkerung zu erreichen, ist die wirklich herausfordernde gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Er klärt in seinem Blog und in den sozialen Medien regelmäßig über wissenschaftliche Fragen rund um Sars-CoV-2 auf, ordnet aktuelle Meldungen zum Thema ein und stand in der Corona-Pandemie diversen Medien Rede und Antwort.
Schwerere Fälle der Krankheit Covid-19 nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 erleiden vor allem Ungeimpfte. Das gilt insbesondere für jene, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Besonders tragisch ist es, wenn es Menschen trifft, die nicht aus Überzeugung, sondern aus eben dieser Unsicherheit sich nicht impfen ließen. Die Unsicherheit kommt weniger von offensichtlichen Fehlinformationen, wie etwa jenen, dass der Impfstoff angeblich „5G-Nanochips“ enthalte. Problematisch sind eher die vage raunenden Beiträge, die Stimmung gegen die Impfung machen, indem sie unter anderem wissenschaftlich noch ungeklärte Fragen und Ungewissheiten ausnutzen. Dazu gehört für mich auch ein Ende August in der Berliner Zeitung erschienener Text von Cornelia Stolze.
In diesem Text wird mit Sätzen wie „Tatsächlich steht für die Impfkampagne der Regierung viel auf dem Spiel. Würden Antikörpernachweise als Immunitätszertifikat akzeptiert, könnte dem Minister ein neues Fiasko drohen“ oder „Auch in Arztpraxen, wo nicht geschummelt wurde, hat sich gezeigt, dass geimpfte Personen oftmals keine Antikörper gegen Sars-CoV-2 haben“ in meinen Augen Stimmung gegen die Impfung gemacht. Letzteres ist übrigens eine nicht belegte Behauptung. So waren bei einer Studie mit Angestellten der Charité Berlin in einer Gruppe von 113 Geimpften nur bei einer Person keine Antikörper messbar. Die Autorin scheint zu glauben, dass Genesene gezielt benachteiligt würden, damit sich alle impfen lassen.
Tatsächlich lässt sich die Annahme von Cornelia Stolze, nämlich die gegenüber Geimpften angeblich schlechtere Behandlung von Genesenen, recht einfach erklären. Der erste Punkt ist die Dauer von sechs Monaten, in denen ein Schutz vor erneuter Infektion angenommen wird. Der Grund dafür ist, dass Immunität gegen das Virus im vergangenen Jahr vor allem mit Antikörpertests gemessen wurde. Diese waren kurz nach Pandemiebeginn etabliert und sind einfach anzuwenden. Es braucht ein kleines Röhrchen Blut, für Selbstzahler kostet der Test etwa 20 Euro. Zum Vergleich: Später eingeführte Tests auf T-Zellen gegen das Virus – neben den Antikörpern ein anderer zentraler Teil des Immunsystems – sind mit rund 120 Euro sechsmal so teuer und für die Tests wird eine größere Menge Blut benötigt.
Schutz vor Corona? Antikörpertest ohne PCR reicht als Nachweis nicht aus
Gegen Ende 2020 zeigte sich nun mehr und mehr, dass die Antikörpermenge im Blut über den Zeitraum von einigen Monaten deutlich abnimmt. Die vorläufige Schlussfolgerung war daher, dass die Immunität nach einer Infektion nicht lange anhält – daher die Frist von sechs Monaten. Deutlich aufwändigere Studien, die erst in diesem Jahr abgeschlossen wurden, haben nun verschiedene, nicht so leicht messbare Teile des Immungedächtnisses untersucht. Sie haben gezeigt, dass damit Genesene auch nach zwölf Monaten noch gut geschützt sind vor schwererer Erkrankung nach einer Neuinfektion – weswegen die Gesellschaft für Virologie in einer kürzlich erschienenen Stellungnahme für eine Verlängerung auf zwölf Monate plädiert. Die Frist von sechs Monaten wurde also nicht eingeführt, um Genesene zu piesacken oder Impfungen zu propagieren, sondern entsprach dem damaligen Stand des Wissens – der jetzt angepasst werden kann.
Der zweite beanstandete Punkt ist, dass ein Antikörpertest ohne PCR-Test nicht ausreicht, um einen Schutz vor dem Virus nachzuweisen. Das wird etwa bei Masern gemacht: Wenn der Antikörpertest über einem bestimmten Wert liegt (der seit 1990 gilt), gilt das als Immunitätsausweis. Warum gibt es das bei Corona nicht? Erstens stellt sich eben die Frage, ob Antikörper im Blut überhaupt ein guter Wert sind, um Immunität festzustellen. Zweitens gibt es noch keine Studien wie beim Masernvirus, die angeben, ab welchem Schwellenwert eine bestimmte Person als ausreichend geschützt gilt. Es stimmt also nicht, wie im Text von Stolze behauptet: „Diese Regelung widerspricht den Standards unabhängiger Wissenschaft“. Im Gegenteil: Wie beim Masernvirus bräuchte es Studien, die zeigen, welcher Messwert statistisch wie viel Schutz anzeigt. Vorzuwerfen wären der Wissenschaft oder der Politik hier, dass in vielen Ländern inklusive Deutschland solche großen Studien nicht durchgeführt werden, obwohl ein entsprechender Wert dringend gebraucht wird. Dabei gilt es aber zu bedenken, dass das Virus noch sehr jung ist und die Forschung schon mit ungeheurer Geschwindigkeit und in vielen Disziplinen zu Corona arbeitet.
Wie bei der Grippe kommen direkt gegen das Virus gerichtete Medikamente oft zu spät und ihr Nutzen ist begrenzt.
Ein anderes Thema, das immer wieder gegen die Corona-Impfung angeführt wird, sind Medikamente gegen Covid-19, oder: der Mangel derselben. Auch hier wird gelegentlich vermutet, dass dahinter Machenschaften zur Förderung der Impfung stecken. Die Schwierigkeit besteht aber in der Biologie des Virus. Bei akuten Viruserkrankungen, und noch viel mehr bei Sars-CoV-2 (was auch seine Gefährlichkeit ausmacht), gibt es die ersten Tage nach Ansteckung keine Symptome. Wenn dann unter anderem Husten oder Halsschmerzen einsetzen, hat das Immunsystem in den meisten Fällen schon begonnen, das Virus zu bekämpfen. Wie bei der Grippe kommen direkt gegen das Virus gerichtete Medikamente daher oft zu spät, und ihr Nutzen ist begrenzt. Entsprechend hat auch ein kürzlich vorgestelltes Medikament von Merck die Sterberate zwar immerhin um die Hälfte senken können. Das ist ein wichtiger Fortschritt, aber keine definitive Lösung. Wirklich wirksam sind solche Substanzen in der präventiven Anwendung, wie sie zum Beispiel bei Coronavirus-Ausbrüchen in Altersheimen möglich wären. Aber auch dieses Feld ist noch nicht ausreichend erforscht.
Tatsächlich gefährlich ist bei Covid-19 aber nicht einmal die Vermehrung des Virus in Hals und Nase, sondern durch das, was danach folgt: eine fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems. Diese führt unter anderem dazu, dass die Lunge verstopft und die Patientinnen und Patienten nicht mehr atmen können. Zentrales Medikament für die Behandlung von Covid-19 ist daher das seit 60 Jahren bekannte Dexamethason, welches wie alle Corticoide das Immunsystem hemmt. Unter anderem auch von uns am Max-Delbrück-Centrum werden zur Zeit viele weitere Immunsystem-Dämpfer erforscht. Ihnen allen ist gemeinsam, dass infolge des gedämpften Immunsystems bei einer Covid-19-Erkrankung Bakterien- und Pilzinfektionen auftreten können.
Die Patientinnen und Patienten müssen deshalb gut überwacht werden. Für die bestmögliche Anwendung müssen Zeitpunkt und Dosierung sowie Kombination mit antiviralen Medikamenten daher noch intensiv erforscht werden.





