Wahrscheinlich ist Kerstin Zeise ein gutes Beispiel. An der Praxis der Hals-Nasen-Ohren-Ärztin in Charlottenburg lässt sich erklären, warum der ambulanten medizinischen Versorgung in Berlin der Kollaps droht. An diesem Dienstagvormittag werden sich vor dem Empfangstresen die Patienten zur Akutsprechstunde aufreihen. „Einen regulären Termin gibt es erst wieder im November“, sagt Zeise. Die Hälfte ihrer Medizinischen Fachangestellten (MFA) hat sich derweil wegen einer Corona-Infektion krankgemeldet. Angesichts des Personalmangels ist sie froh, überhaupt die Stellen besetzt zu haben.
Willkommen im Gesundheitssystem der größten deutschen Stadt, in der insgesamt 4,2 Millionen Berliner, Brandenburger und Touristen ambulant versorgt werden. In der jährlich knapp 30 Millionen Mal Patienten eine der 5776 Praxen aufsuchen und laut Statistik 730.000 Menschen in Krankenhäusern stationär behandelt werden. Dennoch ist das Modell des niedergelassenen Arztes bedroht.
Das erscheint paradox, will doch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach den ambulanten Sektor ausbauen. Doch scheint der SPD-Politiker dabei vorrangig die Kliniken im Blick zu haben. Dieser Eindruck drängt sich zumindest Kerstin Zeise und Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV) auf, die an diesem Dienstagmorgen in die Charlottenburger Praxis geladen haben. KV-Vorstandsvorsitzender Burkhard Ruppert formuliert es so: „Das System wird vor die Wand gefahren.“
Ein Grund sind Ruppert zufolge die Kosten. „Im Durchschnitt werden nur 80 Prozent der erbrachten Leistungen vergütet.“ Die Budgets der Praxen sind nach drei Jahrzehnte alten Regelungen gedeckelt. Aktuell liegt den Kassenärzten ein Angebot vor, das 2,1 Prozent mehr Honorar vorsieht und das Ruppert angesichts der Inflation „im Bereich der Unverschämtheit“ ansiedelt.
Protest der HNO-Ärzte: Kinder warten lange auf OP
Kerstin Zeise verdeutlich die finanziellen und medizinischen Konsequenzen an ambulanten Operationen bei Kindern. Wenn zum Beispiel Polypen entfernt werden müssen, um langfristige Schäden wie Schwerhörigkeit bei Heranwachsenden abzuwenden: „Für einen solchen Eingriff zahlt die Kasse 107 Euro“, sagt die HNO-Ärztin. Dem stünden Kosten in Höhe von rund 250 Euro gegenüber, unter anderem für einen OP, der anzumieten sei. „Wir haben versucht, mit allen beteiligten Playern zu sprechen“, berichtet Zeise. „Das Interesse der Krankenkassen und der Politik scheint nicht besonders groß zu sein.“
Sie begreift nicht, warum Minister Lauterbach in Krankenhäusern ambulante Strukturen schaffen will, aber die zu ignorieren scheint, die es durch die Niedergelassenen bereits gibt. „Zumal ein Eingriff wie eine Polypen-Entfernung in der Klinik das Dreifache kostet“, betont sie. Ein Machtwort aus dem Bundesgesundheitsministerium könnte das Problem lösen. So lange es nicht gesprochen ist, fahren viele niedergelassene HNO-Ärzte Kinderoperationen zurück. Termine sind deshalb schwer zu bekommen, längere Wartezeiten die Folge.
Eine Art Protest, den offenbar Mediziner anderer Fachrichtungen interessiert verfolgen. „Die Gynäkologen werden sich ebenfalls überlegen, welche Operationen in der momentanen Situation noch nötig sind“, sagt Christiane Wessel, selbst niedergelassene Gynäkologin und Mitglied im Berliner KV-Vorstand.
Zu leiden haben alle medizinischen Sparten unter dem Mangel an qualifiziertem Personal. Zeise zahlt ihren MFA zwei Gehaltsklassen über deren eigentlichem Tariflohn. Dennoch kann sie mit der Konkurrenz aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens kaum mithalten. „Manche Krankenhäuser werben Personal mit hohen Prämien ab“, sagt sie. Krankenkassen und Behörden locken ebenfalls. Die Not macht erfinderisch. Zeise zum Beispiel ergriff die Chance, als sich ein Patient interessiert zeigte, und offerierte einen Ausbildungsplatz. Der Deal kam zustande. Inzwischen ist jeder zweite Beschäftigte in Berliner Praxen „eine nicht gelernte MFA“, sagt KV-Chef Ruppert. Sie kommen aus Branchen wie dem Bäckerhandwerk oder dem Hotelfach.
Bürokratie stiehlt Ärzten viel Zeit
Verschärft wird das Problem dadurch, dass die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen, nicht nur bei den MFA, vor allem bei den Ärzten selbst wird es kritisch. 19 Prozent sind zwischen 60 und 65 Jahre alt. Diese Grenze sogar überschritten haben 15 Prozent. Gleichzeitig nimmt die Zahl potenzieller Patienten zu. Berlins Bezirke erleben einen stetigen Zuwachs, manche weniger, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf, und Lichtenberg mehr. Der Versorgungsgrad bei Hausärzten sank dort auf gut 90, knapp 85 beziehungsweise rund 78 Prozent. „Eine gefühlte Unterversorgung“ nennt Ruppert das. Unterversorgt gilt ein Gebiet unterhalb von 75 Prozent.
Zur Arbeit am Patienten kommt die Bürokratie, die den niedergelassenen Ärzten in Selbstständigkeit viel Zeit stiehlt. Immer weniger junge Medizinabsolventen wollen sich das offenbar antun. Anstellungen in einer Praxis erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Waren 2018 noch 18 Prozent der Berliner Ärzte und Psychotherapeuten angestellt, sind es inzwischen 25 Prozent.



