Jeder Kiez braucht Restaurants, auf die man sich in sämtlichen Lebenslagen verlassen kann. Bank-Restaurants nenne ich sie. Weil sie zuverlässig gut sind, sich in all den Jahren ihrer Existenz nicht wirklich verändern und – obwohl sie alles Hypes ignorieren – trotzdem nie langweilig werden.
Das Les Valseuse auf der Eberswalder Straße ist für mich ein Bank-Restaurant. Es hat seine Klassiker – ein fantastisches Steak Frites und Steak Tartare – seit seiner Eröffnung vor mehr als zehn Jahren nicht von der Karte genommen. Mein Kollege Jesko zu Dohna schrieb vor nicht allzu langer Zeit eine Hymne darauf.
Besser trinkfest sein
Seit ein paar Jahren hat das Les Valseuse einen kleinen Ableger, eine Weinbar namens Dr Maury auf der Schönhauser Allee. Ausgerechnet auf der Höhe, wo später Wen Cheng seinen Hand-Pulled-Noodles-Imbiss eröffnete. Wen Cheng dürfte den meisten Berlinern inzwischen ein Begriff sein. Falls nicht: Das ist der Imbiss, vor dem immer eine Schlange steht, sodass die Anwohner Zettel aufhängen, man möge doch bitte ihre Eingangstür nicht zustellen und sich etwas leiser unterhalten.
Man könnte nun meinen, dem Dr Maury ergehe es wie dem Bild neben der Mona Lisa. Keiner schenkt ihm Beachtung, weil alle sich um die Mona Lisa drängeln. Doch mitnichten, im Dr Maury ist immer genug los. Vor allem sitzt hier die französische Community, um Wein zu trinken: Naturwein, oder zumindest größtenteils organisch angebaut, meist direkt aus Frankreich, Italien und Spanien importiert.
Zugegeben, ich habe etwas länger gebraucht, bis ich es besuchte. Einige meiner Freunde sind bereits Fans. Und endlich lief es einmal so herum, dass sie mich mitschleppten und nicht ich das Restaurant bestimmte. Sie sagten, für unseren Kiez seien die Weine sowie die Gerichte verhältnismäßig günstig. Man müsse jedoch trinkfest sein. Denn Alex Kastner, der Sommelier und Gastgeber, schmeiße regelmäßig eine Runde Calvados, diesen bernsteinfarbenen Apfelbranntwein mit bis zu 45 Volumenprozent aus der Normandie.
Wen Cheng hatte an diesem Dienstagabend zu, vielleicht war es deshalb voller und lauter im Dr Maury, als ich es mir ausgemalt hatte. Es herrschte mehr Samstagabend-Bargefühl als Restaurantatmosphäre, wozu das sehr gedimmte Licht beitrug. Passenderweise sind die Speisen auf der kleinen Karte als ideale Trinkbegleiter konzipiert: viel Käsiges, Kalorienreiches und im Ofen Überbackenes, um den Alkohol aufzufangen.

Am besten in der Karte von unten anfangen, lautete der Tipp meiner Freunde. Und die Schnecken in Knoblauchbutter lohnten nicht unbedingt, hatte meine Freundin noch hinzugefügt. Immerhin ist sie mit einem Franzosen verheiratet, was ihr auf dem Schneckengebiet in meinen Augen genug Kompetenz verleiht.
Es dauerte keine 30 Sekunden nach dem Hinsetzen, bis Alex Kastner, ein geborener Sindelfinger, der in Straßburg aufwuchs und in Frankreich seine gastronomische Ausbildung machte, mit einer Flasche Crémant vorbeikam und nach einem kurzen fragenden Blick das Glas am Tisch auffüllte.
Leichtere Gerichte sind eher selten
Keine Zeit zu erkennen, welcher Crémant das war. Egal, das Glas war schnell leer. Als nächstes empfahl Alex Kastner mir den Saveurs de Raphael, einen Sylvaner aus dem Elsass, ungeschwefelt als Naturwein zehn Monate im großen Fuderfass ausgebaut. Er muss meinen Blick gedeutet haben, beschwichtigte sofort: Es sei sein Lieblingswein, ein sauberer Naturwein ohne Fehlaromen, dafür mit fruchtigen Apfelnoten sowie kräutrig und mineralisch zugleich. Es stimmte zu 100 Prozent.
Dazu hatte ich mir von ganz unten auf der Karte erst mal die Gnocchi à la forestière bestellt: hier gut eingekaufte, fluffige Gnocchis, die in einer Champignon-Sahne-Butter-Soße mit Knoblauch und Thymian abgeschmeckt und zusätzlich nochmal mit Parmesan überbacken werden. Eine magenfüllende, sehr leckere Schweinerei, im gusseisernen Pfännchen serviert.
Das Oeuf Cocotte, ein herrlich käsig-schlonziges Gericht und Favorit unter den trinkfesten Stammgästen, geht in die ähnliche Richtung: ein im Förmchen gebackenes Ei mit einer gestockten Gouda-Butter-Sahne-Basis zum Auslöffeln. Frische Kräuter und Trüffelöl runden es ab.
Leichtere Gerichte wie die folgenden Lauch Maki sind hier eher selten, trotzdem bestehen sie mühelos neben all den kalorienreichen Geschmacksbomben: Sautierter Lauch wurde in Form von Maki-Röllchen geschnitten und auf einer mit Limettensaft verflüssigten Salsa Verde angerichtet. Toll auch der Schärfekick durch Chiliflocken sowie einen Ingwerschaum.
Danach stand erstmals ein Calvados mit herrlich hochprozentigem Mostgeschmack ungefragt auf dem Tisch. Zur Verdauung wird er in Frankreich typischerweise zwischen den Gängen gereicht, was jetzt auch nötig war. Alex Kastner schwört auf den von Pâpidoux, der Cidre wird hier besonders lange in Eichenholzfässern gelagert.
Danach war ich bereit für die Fleischgänge: ein im getoasteten Sesambagel präsentiertes Pulled Pork, süßlich-weich das Fleisch und knackig-sauer der roh marinierte Rotkohl als Kontrast. Etwas zu salzig war es, aber es schmeckte wie Soulfood nach durchzechter Nacht. In die gleiche Kategorie fiel das Asian-Style Roastbeef: ebenfalls zu salzig, aber unwiderstehlich in seiner Kombination aus schlonziger Hoisinsoße, crunchigen Röstzwiebeln, knackigem Edamame sowie Koriander und Sesam als Topping.
Das Dr Maury macht keine Küche, in der stundenlang fermentiert, gefeilt und gehandwerkt wird. Viele Ausgangsprodukte sind einfach eingekauft und dann mit eigenen Ideen veredelt. Das ist vollkommen in Ordnung. Für mich ist das Dr Maury eine Weinbar mit gutem Begleitessen und Bombenstimmung und als solche zum Ausgehen meine neue Bank.
Gerichte 5 bis 14 Euro, Desserts 6 Euro




