Wenn vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus die Rede ist, fallen fast ausschließlich Namen von Männern. Doch auch Frauen kämpften gegen das Regime, auf mannigfaltige Art und Weise, und viele verloren dabei ihr Leben. Dass nur wenige bekannt sind, beruht auf einem Geschlechterbild, das sich fatalerweise nach 1945 in Männerköpfen hielt: „Ein Frauenzimmer, das sich in politische Sachen einmischt, ist mir ein Greuel“ (Adolf Hitler). Gut so, dass sich viele einmischten! Wir erinnern an fünf Berliner Widerstandskämpferinnen, stellvertretend für alle Frauen, die damals todesmutig gegen den staatlich organisierten Terror Stellung bezogen.
Ruth Andreas-Friedrich (1901-1977), die Frau hinter „Onkel Emil“
Mit dem Schlimmsten muss sie jetzt rechnen. Jemand hat sie bei der Gestapo angezeigt. In einem Kaffeehaus soll sie „eine den Führer herabsetzende Bemerkung“ gemacht haben. Sie ist zum Verhör in der Prinz-Albrecht-Straße (heute Niederkirchnerstraße) einbestellt. Dort haben auch das Reichssicherheitshauptamt und die SS ihren Sitz. Die Sicherheitsorgane dürften nun, wenige Tage nach dem missglückten Attentat auf Hitler, in jedem Bürger einen Mittäter wittern. „Nur mit Mühe ziehe ich mich aus der Affäre“, schreibt sie am Montag, 31. Juli 1944, in ihr Tagebuch. „Nach dem Grundsatz ,Angriff ist die beste Verteidigung‘ entlarve ich den beflissenen Parteigenossen als jämmerlichen Denunzianten, flechte Namen hoher und höchster Dienststellen in meine Rede, jongliere mit Promi, Schrifttumskammer, Beschwerde bei der Pressestelle der Reichsregierung, wie Rastelli mit seinen Kugeln, und gebe so fürchterlich an, daß der verhörende Beamte immer kleinlauter wird. Zu guter Letzt entschuldigt er sich beinahe.“

Wenn der Beamte auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, wer diese Ruth Andreas-Friedrich, die ihn da zusammenstauchte, wirklich war! Zum Zeitpunkt ihrer Vorladung ist Ruth Andreas-Friedrich seit etwas mehr als fünfeinhalb Jahren im Widerstand gegen das NS-Regime, ganz im Stillen. Ihr lautloser Kampf beginnt am Morgen nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Morgens gegen sieben Uhr klingelt jemand Sturm an ihrer Wohnungstür in der zweiten Etage am Hünensteig 6 in Steglitz. Ein Bekannter steht keuchend vor ihr und fleht sie an, ihn zu verstecken: „Der Teufel geht um in Berlin! Die Synagogen brennen. Das Judenblut spritzt vom Messer.“ Am Ende des Tages beherbergt Ruth Andreas-Friedrich in ihrer 50 Quadratmeter großen Wohnung, in der sie mit ihrer 13-jährigen Tochter Karin lebt, fünf weitere Menschen, die um ihr Leben fürchten. Mit engsten Freunden hilft sie von nun an NS-Opfern. Aus humanitärer Haltung wächst politischer Widerstand. Bekannt wird ihr Freundeskreis als Widerstandsgruppe „Onkel Emil“.
Wer war Ruth Andreas-Friedrich? Ruth Frieda Mathilde Behrens, Tochter von Dr. Max Adolf Behrens, einem Juristen, und Margarete Wilhelmine, geborene von Drewitz, kommt am 23. September 1901 in Schöneberg bei Berlin zur Welt. Als junge Frau ist sie ein „Wandervogel“; so nennt sich die von Schülern und Studenten in Steglitz gegründete Bewegung, die in freier Natur eine eigene Lebensart entwickeln will. Sie macht eine Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin und zur Buchhändlerin, arbeitet schließlich als Journalistin und Schriftstellerin. Obwohl die Monogamie ihrem Freigeist widerspricht, heiratet sie. Ihrem Mann Otto Andreas Friedrich, einem Unternehmer, gesteht sie Affären zu. Aus einer davon wird Liebe, sodass sich das Paar sechs Jahre nach der Eheschließung scheiden lässt, wonach sie sich nicht Friedrich, sondern Andreas-Friedrich nennt.
Als sie sich im November 1938 zum Widerstand entschließt, führt Ruth Andreas-Friedrich eine offene Beziehung mit Leo Borchard, einem aus Russland stammenden Dirigenten. Borchard, der eine Etage über ihr wohnt, gehört zur „Stammgruppe“ der Widerständler. Dazu zählen auch Ruth Andreas-Friedrichs Tochter Karin, der Journalist Fred Denger sowie die Ärzte Josef Schunk und Walter Seitz, genannt Onkel Emil. Für Seitz war Andreas-Friedrich „Herz und Flamme der zuletzt rund zwanzigköpfigen Gruppe“. Bis 1945 blieben die Mitglieder unentdeckt. Den Decknamen von Seitz – er lebte im Untergrund – nutzte die Gruppe als Erkennungsparole. (Sie nannten sich lange „Clique“ und erst rückblickend „Onkel Emil“.) Was heute über die Widerstandgruppe bekannt ist, ergibt sich aus dem „Tätigkeitsbericht der Gruppe ,Onkel Emil‘“, am 14. Mai 1945 aufgesetzt, und aus den Tagebuchaufzeichnungen von Ruth Andreas-Friedrich. Sie erschienen 1947, erst unter dem Titel „Berlin Underground“ in New York und London, daraufhin als „Der Schattenmann“ im Suhrkamp-Verlag Berlin. Aus dem Bericht geht hervor, was die Gruppe in den letzten Monaten des Krieges tat: Sie versteckte und beherbergte Untergetauchte, fälschte Ausweise und Lebensmittelkarten, unterstützte Zwangsarbeiter mit Essen und Kleidung, besorgte Atteste zur Befreiung vom Wehr- oder Volkssturmdienst, betrieb Sabotage, leitete Lageberichte ins Ausland und leistete Beihilfe zur Flucht von Kriegsgefangenen.
Diesen Bericht zu verfassen, entsprang dem Wunsch Ruth Andreas-Friedrichs, den sie am 27. März 1943 in ihrem Tagebuch festgehalten hatte: „Uns aber ist es ungeheuer wichtig, daß man draußen erfährt, dass auch in Deutschland Menschen leben. Nicht nur Judenfresser, Hitlerjünger und Gestaposchergen.“ Mit der Veröffentlichung ihres Tagebuchs verfolgte sie dieselbe Absicht: „Möge es als Zeugnis in die Welt hinausgehen, daß auch unter Hitlers Regime in Deutschland Menschen gelebt haben, die es nicht verdienen, daß man um einer verantwortungslosen Regierung willen sie und ihr ganzes Volk verachtet!“ „Einzigartig an der Gruppe ,Onkel Emil‘ war, dass sie als eine Gemeinschaft von nichtjüdischen und jüdischen Personen dem Regime die Stirn bot“, schreibt der Historiker Wolfgang Benz. „Die gewöhnliche Hierarchie zwischen Rettern und denjenigen, die sich unter deren Schutz begaben, existierte im Steglitzer Kreis Ruth Andreas-Friedrich und ihre Freunde uneigennützig. Als Berlin Ende der 1950er-Jahre beginnt, seine „unbesungenen Helden“ zu ehren – Menschen, die sich gegen das NS-Regime stellten – wird Ruth Andreas-Friedrich eine Erwähnung verwehrt: Sie lebe nicht mehr in Berlin. Erst 1988 wird am Hünensteig 6 eine Gedenktafel angebracht, zwei Jahre später in der Nähe des Botanischen Gartens ein Park nach ihr benannt. Da ist sie seit elf Jahren tot.
Nach einer langen, ebenfalls offenen und letztlich gescheiterten Ehe mit Walter Seitz hat sie sich das Leben genommen, kurz vor ihrem 76. Geburtstag. „Viele sterben zu spät – manche sterben zu früh“, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief. „Mir scheint für mich jetzt eine gute Zeit gekommen, um zu sterben.“ Im Jahr 2002 verleiht der Staat Israel Ruth Andreas-Friedrich den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“; 2004 wird auch ihre Tochter Karin so geehrt. Für Hanna Angel, der „Onkel Emil“ noch 1941 zur Flucht in die USA verhalf, glich Ruth Andreas-Friedrich einem Engel: „Sie brauchte nur zu erscheinen, und alles hatte sich geändert, die Hungernden hatten zu essen, die Obdachlosen ein Bett, die Hoffnungslosen wieder Hoffnung. Sie gab von ihrem Eigenen, sie rettete von anderen, was zu retten war. Ihre Furchtlosigkeit war einzigartig.“
Elise Hampel (1903-1943), „Jeder starb für sich allein“
„Die Hitlerei bedeutet in der Welt, Krieg geht vor Recht“, steht in Blockschrift auf einer Postkarte. „Deutsche Männer und Frauen wir müssen an uns selbst glauben. Nicht an den Schurken Hitler“ heißt es auf einer anderen. Mit den Worten „Freie Presse!“ sind sie überschrieben, wie fast alle Karten, die Elise Hampel mit ihrem Mann Otto geschrieben und in Berlin verteilt hat, um die Bevölkerung gegen die Nazis aufzurütteln. Wer war diese Frau?
Elise Hampel, geborene Lemme, stammte aus der Nähe von Stendal; sie besuchte wenige Jahre die Volksschule, arbeitete als Hausmädchen und Näherin, gehörte der NS-Frauenschaft und der Frauenorganisation der NSDAP an, wo sie „Zellenleiterin“ war. Im Jahr 1937 heiratete sie den Arbeiter Otto Hampel, sie zogen in eine Wohnung in der Amsterdamer Straße 10 in Berlin-Wedding. Beide waren typische Nazi-Mitläufer. Und vielleicht hätte sich daran nie etwas geändert, wäre nicht Elise Hampels Bruder Anfang 1940 in Frankreich gefallen. Ein paar Monate später begannen die Hampels, Postkarten und Handzettel zu schreiben. „Lieber Leser sorge für Umlauf“, hieß es auf mancher Karte. Doch viele wurden bei der Polizei abgegeben. Die Gestapo ermittelte zwei Jahre lang. Dann, am 20. Oktober 1942, wurden die Hampels denunziert. Eine Frau hatte die beiden beobachtet, als sie in der Eisenacher Straße in Schöneberg eine Karte ablegten.
Die Entwicklung, die Elise Hampel durchlaufen hat, lässt sich an zwei Fotos ablesen. Es sind die einzigen, die es von ihr gibt. Das eine ist ihr Hochzeitsfoto: Eine junge Frau lächelt schüchtern in die Kamera. Das zweite Foto haben fünf Jahre später die Ermittler gemacht: Elise Hampel wirkt um viele Jahre gealtert. Bei den Vernehmungen leugnete sie nicht. Und sie versuchte auch nicht, ihre Beteiligung kleinzureden. „Es war unser gemeinsames Werk“, sagte sie in einer der ersten Vernehmungen. Dabei hätte sie sich vielleicht retten können. Ihr Mann versuchte nämlich, alle Schuld auf sich zu nehmen. Der Volksgerichtshof verurteilte das Ehepaar am 22. Januar 1943 wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode. Auf der Grundlage der Prozessakten verfasste der Schriftsteller Hans Fallada Ende 1946 den Roman „Jeder stirbt für sich allein“, in dem die Eheleute nicht Hampel, sondern Quangel heißen, er wie ein Held in den Tod geht und sie bei einem Bombenangriff auf das Gefängnis stirbt.

Die Wirklichkeit sah anders aus. In den Wochen nach dem Todesurteil stellten die Hampels mehrere Gnadengesuche. Wie groß die Angst der beiden vor dem Fallbeil war, kann man daran ablesen, dass sie sich nun gegenseitig beschuldigten, wohl in der Hoffnung, dem Tod noch zu entgehen. An einem Frühlingstag 1943, am 8. April, wurde die Todesstrafe an dem Ehepaar Hampel in Plötzensee vollzogen. Der Oberreichsanwalt vermerkte in den Akten: „Von der Vorführung bis zur Vollzugsmeldung“ dauerte die Hinrichtung von Elise Hampel 16 Sekunden.
Hilde Berger (1914-2011), die Sekretärin von Oskar Schindler
Die Ostfront rückt auf Krakau vor, die SS ordnet die Räumung des nahe gelegenen Konzentrationslagers Plaszów an. Alle Schreibkräfte müssen Transportlisten tippen. Auch Hilde Berger, die als Sekretärin für einen Hauptscharführer zwangsarbeitet. Die 30-Jährige ahnt: Es entscheidet sich jetzt, im Herbst 1944, ob sie weiterleben oder sterben wird. Das Leben meint es mit der gebürtigen Berlinerin, die polnische Staatsangehörige ist, seit Jahren nicht gut. Die Tochter eines jüdisch-orthodoxen Schneiders aus Galizien, die den Beruf Stenotypistin und Fremdsprachensekretärin für Englisch und Französisch erlernt hat, kämpfte als Trotzkistin gegen den Nationalsozialismus und saß wegen „Hochverrats“ zweieinhalb Jahre im Zuchthaus.
„Ich hatte damals das Gefühl, mehr Gemeinsamkeiten mit den Sozialisten und Kommunisten zu haben als mit den Juden“, begründet Hilde Berger in einem von ihr verfassten Bericht 1980 ihren politischen Kampf in Berlin. „Ich wollte dabei helfen, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, eine Welt ohne Krieg, ohne ideologisch, rassistisch oder politisch motivierte Verfolgung zu schaffen.“ Die deutschen Behörden schieben Hilde Berger 1939 nach Polen ab. Bei einer Ölgesellschaft muss sie ab 1942 Zwangsarbeit leisten, erst in Drohobycz, dann in Boryslaw (heute Ukraine). Der Betriebsleiter Berthold Beitz bewahrt Juden vor den Vernichtungslagern, indem er sie als kriegswichtig reklamiert. Im April 1944, nach Beitz’ Einberufung zur Wehrmacht, wird Berger mit anderen in das KZ Plaszów deportiert. Die Ostfront nähert sich ein halbes Jahr später Krakau und damit Plaszów. In Krakau steht eine Emaille- und Munitionsfabrik, in der jüdische Zwangsarbeiter für die Wehrmacht Blechgeschirr und Granatenhülsen herstellen.

Ihr Leiter Oskar Schindler erhält mit Geschick, Geschenken und Glück die Erlaubnis, mit seinen jüdischen Arbeitern eine neue Fabrik aufzubauen. Hilde Berger sieht im Büro des Hauptscharführers zufällig das Schreiben, demnach das Schindler-Lager mit 800 Männern und 300 Frauen nach Brünnlitz (Brnenec) in die Tschechoslowakei gebracht werden soll. „Mir wurde klar, dass dieser Brünnlitz- Transport bessere Überlebenschancen hatte als alle anderen Transporte“, berichtet sie später. „Deshalb trug ich mich, Kuba und einige andere enge Freunde ebenfalls auf diese Transportliste ein.“ Ihr Name und Beruf stehen hinter Nr. 7. Reinhard Hesse schreibt im Vorwort seines 2013 erschienenen Buchs über Hilde Berger („Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste“, Psychosozial-Verlag), dass sie, um sich und Freunde auf die Liste zu tippen, andere Namen strich. „Ihr Leben lang hat sie das beschäftigt – verständlicherweise. Aber – hätten wir es wirklich anders gemacht?“ Die Juden auf Schindlers Liste überleben den Holocaust, ihre Geschichte wird 1993 verfilmt. Von Hilde Bergers Berliner Familie bleibt nur ihre Schwester Rose am Leben. Ihre Eltern, ihre zweite Schwester und ihr Bruder sowie ihr Ehemann sind von den Nazis ermordet worden. In den USA, wohin sie 1949 emigriert, stirbt sie im Alter von 97 Jahren.
Elisabeth „Lilly“ Wust (1913-2006), Liebe ist stärker als der Tod
Februar 1999 kommt ein Film in die Kinos, der Kritiker begeistert, Besucher zu Tränen rührt und außer dem Silbernen Bären (für die beiden Hauptdarstellerinnen) auch den Deutschen Filmpreis gewinnt. Die cineastische Love-Story „Aimée & Jaguar“ basiert auf den Erinnerungen der Berlinerin Elisabeth Wust. „Liebe unterm Hakenkreuz“, titeln die Feuilletons. Es ist die Geschichte von zwei Frauen im Berlin der Vierzigerjahre. Elisabeth „Lilly“ Wust lernt im November 1942 eine untergetauchte Jüdin kennen: Felice Schragenheim, 20 Jahre jung, Vollwaise, ihr Bruder bereits deportiert, ihre Schwester im Exil.
All ihre Versuche, ins Ausland zu fliehen, sind gescheitert. In dieser Notlage trifft sie Lilly, neun Jahre älter, Hausfrau und Mutter. Und die verliebt sich prompt in sie. Im Mai 1943 nimmt Lilly, Kosename „Aimée“, Felice bei sich auf; von ihrem Mann lässt sie sich scheiden. Als Mutterkreuzträgerin hat sie viele Vergünstigungen. Und sie ist über Lebensmittelkarten gut versorgt. Um den Haushalt und die vier Kinder kümmert sich ein „Pflichtjahrmädchen“. Es ist für Felice, die ihre Liebesbriefe mit „Jaguar“ unterschreibt, ein gutes Versteck. Der 21. August 1944 ändert alles. Die beiden Frauen unternehmen einen Fahrradausflug an einen Havelstrand, sie machen davon mit Lillys Leica-Kamera Fotos (siehe oben). Als sie in die Wohnung in Schmargendorf zurückkehren, wartet die Gestapo auf sie. Jemand hat sie verraten. Felice wird verhaftet und mehrmals deportiert. Offiziellen Angaben zufolge stirbt sie am 31. Dezember 1944 im KZ Bergen-Belsen an einer Embolie.

Wer sie denunziert hat, kommt nie ans Licht. Als Mutterkreuzträgerin passiert Lilly nichts. Eine Zeit lang kann sie zu Felice Kontakt halten, dann verliert sich deren Spur. Sie versteckt noch drei weitere Jüdinnen – eine ist Käthe Laserstein, Schwester der Malerin Lotte Laserstein. Für ihren Mut bekommt sie 1981 das Bundesverdienstkreuz. Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ehrt sie 1999 als Gerechte unter den Völkern. Es gibt jedoch auch Kritik an der so ergreifend verfilmten Liebesgeschichte von „Aimée & Jaguar“. Anders als das fünf Jahre zuvor erschienene gleichnamige Buch von Erica Fischer, das auf Erinnerungen von Lilly Wust und Aussagen von Zeitzeugen beruht, weichen wesentliche Filmszenen von den tatsächlichen Vorkommnissen ab. Elenai Predski-Kramer, als Jüdin in Berlin damals ebenfalls untergetaucht, war mit Felice Schragenheim gut befreundet.
Sie berichtete von der unerträglichen Abhängigkeit, in der sich versteckte Juden befanden, auch Felice. „Wir waren damals zu allem bereit. (...) Wir haben gelogen und betrogen, damit wir entkommen. Wir hatten nur einen Gedanken – überleben, wo auch immer, wie auch immer.“ Sowohl Elisabeth Wust als auch Elenai Predski-Kramer leben nicht mehr. Lilly zog ihre vier Söhne alleine auf, eine zweite Ehe scheiterte. In der Dokumentation „Love Story: Berlin 1942“ aus dem Jahr 1997 sieht man sie in ihrem Wohnzimmer sitzen, Fotos und Liebesbriefe in der Hand haltend. Felice war und blieb ihre große Liebe.
Ina Ender (1917-2008), das Model und die Rote Kapelle
Es ist ein riskanter Auftrag, den Ina Ender zu erledigen hat: Das Berliner Model soll während einer Reise ins besetzte Belgien im Herbst 1941 für deutsche Couture werben. Doch die junge Frau will in Brüssel nicht nur Mode vorführen, sie will ein Päckchen mit geheimen Unterlagen übergeben. Es gelingt ihr, sich ihren Aufpassern zwei Stunden lang zu entziehen – und sie liefert das brisante Material tatsächlich ab. Ina Ender wird 1917 in Berlin-Kreuzberg geboren. Ihre Eltern sind Kommunisten, sie tritt mit 15 Jahren dem kommunistischen Jugendverband bei. Ihre Schulleistungen verhelfen ihr zu einer Freistelle auf der Schulfarm Scharfenberg – als erstes Mädchen (sie verliert die Freistelle nach Machtantritt der Nazis). Das Internat auf einer Insel im Tegeler See ist ein Ort des freien Denkens, es wird viel diskutiert. Ina befreundet sich mit Hans Coppi, Hanno Günther und Hans Lautenschläger, den sie 1936 heiratet.
Der Freundeskreis um Hans Coppi politisiert sich. Die jungen Berliner, darunter viele Frauen, treffen sich in Lehnitz, einem Ortsteil der Stadt Oranienburg. Ein Segelverein ist ihre Tarnung. Die Gruppe beschließt, aktiv zu werden: Ihre Mitglieder schreiben Parolen an Hauswände, drucken Flugblätter, dokumentieren Verbrechen, helfen Oppositionellen und Juden. Coppi stellt Ina Ender Harro Schulze-Boysen vor, einen der Köpfe einer Berliner Widerstandsgruppe, die zu einem nicht nur in Deutschland agierenden Netzwerk gehört, das als „Rote Kapelle“ bekannt wird. Zu ihrem Namen kam die Gruppe, nachdem die deutsche Abwehr einen Funkspruch abgefangen hatte: Für Geheimdienstler war ein Morsezeichen klopfender Funker ein „Pianist“, eine Gruppe von Funkern eine „Kapelle“; weil diese aus Moskau gefunkt hatte, galt sie als kommunistisch, rot. Dabei war die Mehrheit der Mitglieder – bekannt sind zirka 400 – das keineswegs. Als Schulze-Boysen erfährt, dass Ina Ender im exklusiven Berliner Modesalon von Annemarie Heise (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Malerin und Grafikerin) arbeitet, erhält sie den Auftrag, dort Informationen zu sammeln.
Im Salon Heise gehen Filmstars wie Zarah Leander und Marika Rökk ein und aus, dazu viele Frauen oder Lebensgefährtinnen der NS-Elite, unter anderen Magda Goebbels, Anneliese von Ribbentrop und Eva Braun. Die Atmosphäre im Salon ist familiär, es wird geplaudert und gelästert. Ender, gelernte Schneiderin, berät die Damen, filtert Informationen aus dem Klatsch und Tratsch: über Treffen der NS-Elite, Frontverläufe, Kriegspläne. Im Frühjahr 1940 sind Ina Ender und ihr vierjähriger Sohn Axel auf dem Titelbild der Berliner Illustrirten Zeitung. Im Hintergrund des Fotos schwebt ein Porträt des „Führers“: Zum Geburtstag Hitlers soll die Bevölkerung Metalle spenden, in der ganzen Stadt gibt es dafür Sammelstellen. Später erzählt Ina Ender, dass ihr Freundeskreis sich über das Titelbild amüsiert habe, aber alle es für eine hervorragende Tarnung hielten. Wie recht sie behalten sollten: Das Foto rettet ihr das Leben. Das Widerstandsnetzwerk der Roten Kapelle zerreißt im Sommer 1942.
Abgehörte Funksprüche und erfolterte Aussagen führen schnell nach Berlin zu den Freundeskreisen um Harro und Libertas Schulze-Boysen, Arvid und Mildred Harnack. Zwischen August 1942 und März 1943 werden ungefähr 130 der gut 150 Mitglieder der Berliner Gruppe verhaftet. Mindestens 57 der Verhafteten, darunter 19 Frauen, werden zum Tode verurteilt und hingerichtet, ohne Gerichtsurteil ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Auch Ina Ender muss sich vor dem Volksgerichtshof verantworten, wegen Hochverrat, Zersetzung der Wehrkraft, Spionage, Landesverrat und Feindesbegünstigung. Fast unausweichlich erscheint die Todesstrafe. Ihrem Anwalt ist das Titelbild der Berliner Illustrirten Zeitung zugespielt worden, und er nutzt es zu ihrer Verteidigung. Zu sechs Jahren Zuchthaus wird sie verurteilt, 1945 von der Roten Armee befreit.
In der Folgezeit wird die Rote Kapelle vom Westen als kommunistische Spionageorganisation verunglimpft und fast vergessen, vom Osten als Vorläuferorganisation der Stasi vereinnahmt. In der DDR arbeitet Ina Ender erst als Polizistin, später leitet sie enteignete Betriebe. Sie stirbt 2008 in Lehnitz – dort, wo ihr Widerstand begonnen hat.
