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Stadt des Verbrechens: Wie gefährlich lebte und lebt es sich in Berlin?

Berlin macht seit jeher als Schauplatz von Verbrechen von sich reden. Ein Streifzug durch die Kriminalitätsgeschichte der Stadt. Im neuen B-History-Magazin.

Terrorfahndung in West-Berlin 1978: Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren auf der Clay-Allee Autos. Zwei Anschläge haben seitdem die Stadt erschüttert: 1986 auf die Diskothek La Belle in Friedenau und 2016 auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.
Terrorfahndung in West-Berlin 1978: Schwer bewaffnete Polizisten kontrollieren auf der Clay-Allee Autos. Zwei Anschläge haben seitdem die Stadt erschüttert: 1986 auf die Diskothek La Belle in Friedenau und 2016 auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz.dpa/Konrad Giehr

Über die ersten Opfer stolpern wir. Sieben sind es, drei links, vier rechts an der Toreinfahrt zu den Hackeschen Höfen in der Rosenthaler Straße, wo wir uns verabredet haben. Auf den im Boden glänzenden Messingtafeln sind ihre Namen eingraviert. Sie alle wurden 1943 aus Berlin deportiert und in Auschwitz ermordet. Kaum jemand nimmt Notiz von diesen Stolpersteinen, von denen inzwischen etwas mehr als 9000 in der Stadt verlegt worden sind, um an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern.

Wie viele von all den Menschen, die täglich durch diese Straße wuseln, mögen die Tragödien kennen, die sich hier, im ehemaligen Scheunenviertel, abspielten? Es war ein Viertel der Armen und Obdachlosen, dazu ein Tummelplatz der Diebe und Hehler, der Zuhälter und Prostituierten. Und ein Ort von Verbrechen.

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Berliner Verlag
Tatort Berlin
Die im Licht Wandelnden hätten immer Sehnsucht nach dem Schatten: So erklärte Curt Moreck (alias Konrad Haemmerling) in seinem „Führer durch das lasterhafte Berlin“ von 1931 die Anziehungskraft, welche die Unter- und Halbwelt auf Außenstehende ausübt.

Mit der neuen Ausgabe von B History, aus der dieser hier veröffentlichte Artikel stammt,  entführen wir Sie in diesen Schatten – in die Kriminalgeschichte Berlins. Auf 124 Seiten mit über 250 Abbildungen begehen wir Tatorte, sammeln Beweise, verfolgen Prozesse, überführen Täter:innen, bedauern Schicksale.

B History „Stadt des Verbrechens“ ist erhältlich im Einzelhandel für 9,90 Euro, im Leserservice unter Tel. +49-30-2327-77 und unter aboshop.berliner-zeitung.de zuzüglich Versandkosten.

Regina Stürickow kennt sich mit den Tatorten in diesem Viertel bestens aus. Verbrechen sind die Leidenschaft der gebürtigen Charlottenburgerin. Schon ein gutes Dutzend Bücher hat die promovierte Historikerin, die in Berlin und Paris studierte, geschrieben. „Ich war schon immer eine Krimi-Tante“, sagt sie und lächelt verschmitzt. Als Kind habe sie Enid Blyton gelesen, später Georges Simenon, Henning Mankell, Donna Leon.

Der Zufall ließ Stürickow zur Autorin von Kriminalsachbüchern werden. Bei einer ihrer Recherchen stieß sie auf einen Berliner Kommissar, der als Erfinder der Mordkommission gilt: Ernst Gennat. Sie schrieb schließlich ein Buch über ihn („Kommissar Gennat ermittelt“, 2016). Was sie an Verbrechen so reizt? „Authentische Kriminalfälle sind auch immer Quellen von historischem Wert. Sie erzählen mehr über die Sozialgeschichte einer Gesellschaft als so manche Statistiken und theoretische Abhandlungen.“

Die im Schatten Wandelnden haben immer Sehnsucht nach dem Licht, aber die im Licht Wandelnden haben immer Sehnsucht nach dem Schatten.

Curt Moreck, Schriftsteller

Auf viele Menschen üben Krimis eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Warum das so ist, erklärt der Schriftsteller Curt Moreck (eigentlich: Konrad Haemmerling) in seinem „Führer durch das lasterhafte Berlin“ von 1931: „Die im Schatten Wandelnden haben immer Sehnsucht nach dem Licht, aber die im Licht Wandelnden haben immer Sehnsucht nach dem Schatten.“

Dieser Schatten inspirierte Journalisten wie Leo Heller und Paul „Sling“ Schlesinger, Schriftsteller wie Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“) oder Erich Kästner („Emil und die Detektive“), Horst Bosetzky oder Volker Kutscher (Autor der Gereon-Rath-Romane, Vorlage für die TV-Serie „Babylon Berlin“), Theater- und Filmemacher wie Bertolt Brecht („Die Dreigroschenoper“) oder Fritz Lang („M“) sowie unzählige Fernsehmacher („Tatort“, „Polizeiruf 110“ oder „4 Blocks“ zum Thema Berliner Clan-Kriminalität).

Das Scheunenviertel: Leo Heller verstand es als Verbrecherviertel, wo „sich nur der Wohlvertraute mühelos zurechtfinden kann“. Dank eines Stadtplans, den Regina Stürickow mit sich führt, können wir uns recht gut orientieren, auch wenn darauf die S-Bahn-Station Hackescher Markt noch Marx-Engels-Platz heißt. Das eigentliche Scheunenviertel, dessen Geschichte in die Zeit zurückreicht, als der Alexanderplatz noch ein Viehmarkt war, beschränkt sich auf den östlich der Rosenthaler Straße gelegenen Teil der Spandauer Vorstadt. Die Scheunengassen befanden sich im Bereich des Bülowplatzes (heute: Rosa-Luxemburg-Platz) und wurden eingegrenzt von der Grenadierstraße (Almstadtstraße, Wohnort hauptsächlich von Juden aus dem Osten Europas und 1923 Tatort eines Pogroms), der Hirtenstraße, der Linienstraße und der Kleinen Alexanderstraße.

Das Scheunenviertel, „ein Gewirr lichtloser Gassen“

„Damals gab es üblere Ecken als das Scheunenviertel“, sagt Regina Stürickow. „Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof, heute Ostbahnhof, etwa, oder um den Stettiner Bahnhof, heute Nordbahnhof. Aber da steht so gut wie nichts mehr aus der alten Zeit.“ Wir schlängeln uns auf der Rosenthaler Straße in Richtung Norden. Hektisch geht es zu. Passanten drängen sich über die Gehwege, Straßenbahnen bollern, Baumaschinen zischen und röhren. Hier lockt ein Fashion Store, dort ein Beauty Shop.

Es ist verblüffend, wie sich das Viertel gewandelt hat. Vor hundert Jahren beschrieb der Schriftsteller Walter Mehring es als „ein Gewirr lichtloser Gassen, wo ein zäher Menschenbrei schmort“. Die Bewohner hofften, es sich irgendwann leisten zu können, wegzuziehen. Jedoch: Die meisten blieben. Und blieben, was sie waren: arme Schlucker.

„In der Rosenthaler stand damals ein Stundenhotel neben dem anderen“, erzählt Regina Stürickow, während sie sich durch ihre randlose Brille blickend auf ihrem Stadtplan orientiert. „Im Hotel Weinmeisterhof, Hausnummer 65, wurde im März 1927 eine Prostituierte ermordet. Der Täter stellte sich, er hatte zuvor seine Haushälterin umgebracht; die war im achten Monat schwanger.“ Wo das Verbrechen geschah, steht heute ein Drei-Sterne-Hotel.

Drogenkontrolle in Kreuzberg: Polizeibeamte einer Hundertschaft überprüfen im Görlitzer Park mutmaßliche Dealer. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2014.
Drogenkontrolle in Kreuzberg: Polizeibeamte einer Hundertschaft überprüfen im Görlitzer Park mutmaßliche Dealer. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2014.imago/Christian Mang

Tatort Berlin. Im Jahr 2020 erfasste die Polizeiliche Kriminalstatistik 504.142 Straftaten. Demnach ereignete sich alle 62,5 Sekunden eine. Damit liegt die Metropole an der Spree in Hinsicht auf die Zahl der Verbrechen pro 100.000 Einwohner bundesweit an der Spitze, gefolgt von Frankfurt am Main; andererseits hat die Polizei so wenige Taten registriert wie seit 2013 nicht mehr.

Für das vergangene Jahr sind 40 Fälle von vollendetem Mord und Totschlag verzeichnet, was einer Mordrate von 1,09 (Fälle pro 100.000 Einwohner) entspricht; nehmen wir die 55 Fälle von versuchtem Mord und Totschlag dazu, kommen wir auf eine Rate von 2,59. Zur Einordnung: Tijuana in Mexiko hat eine Rate von 138 und gilt damit als gefährlichste Stadt der Welt.

Wie sicher das Leben hier geworden ist, hat der Soziologe und Kriminologe Dietrich Oberwittler analysiert. Die Rate der gewaltsamen Todesfälle schwankte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen 1 und 2,5; unmittelbar vor Beginn und nach Ende des Ersten Weltkrieges stieg sie stark an. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben die Todesursachenstatistik, die Verurteiltenrate und die Häufigkeitsziffer eine ähnliche Kurve, die bis in die 1970er-Jahre nach oben und seit den 1990er-Jahren wieder deutlich nach unten zeigt. Deutschland habe mit dem heutigen Wert von 0,5 eine der weltweit niedrigsten Raten tödlicher Gewalt, stellt Oberwittler fest.

Wir biegen in die Neue Schönhauser Straße ein. Das Haus mit der Nummer 13 ist eines der ältesten Gebäude des Viertels, es entstand 1890/91. Die Volks-Kaffee- und Speisehallengesellschaft verköstigte hier für wenig Geld alleinstehende Männer und Frauen, streng getrennt, um der Prostitution keinen Vorschub zu leisten. Die Gesellschaft ging nach 1918 in Konkurs. Das Café Dalles zog ein, ein Schieberlokal. Die Berliner Volkszeitung nannte es 1921 eine „Verbrecherzentrale“.

Am Ende der Neuen Schönhauser geht es rechts in die Münzstraße, links in die Weinmeisterstraße. Spazierten wir geradeaus, stießen wir in die Alte Schönhauser. Im Eckhaus mit der Nummer 12 gab es 1927 ein Eifersuchtsdrama. Eine Frau ließ dabei ihr Leben.

Die Berliner Kripo fing 1811 mit sechs Mann an

Die Berliner Kriminalpolizei war zu jener Zeit gut hundert Jahre alt: Mit Kabinettsorder vom 12. Februar 1811 befahl Friedrich Wilhelm III., dass die „kriminalpolizeylichen Geschäfte, mit den dazu bisher bestimmten Officianten, den sogenannten Kriminal-Kommissarien und Kriminal-Sekretairs, zur Polizey, wohin sie eigentlich gehören, übergehen.“ Diese Kripo fing mit sechs Mann an. Zwei Jahre zuvor war das Königlich Preußische Polizeipräsidium zu Berlin gegründet worden.

In den Mittelpunkt des Interesses rückten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Fälle.

Johann Christoph Peter Horst und Friederike Louise Christiane Delitz sind 1813 der Brandschatzung angeklagt. Das Paar soll ein Feuer gelegt haben, das den Großteil des Ortes Schönerlinde zerstörte. Die beiden „Mordbrenner“ werden am 28. Mai auf dem Richtplatz, den der Volksmund „Des Teufels Lustgarten“ nennt, verbrannt (dort, wo sich heute der Gartenplatz befindet). Es ist die letzte Hinrichtung auf einem Scheiterhaufen in Berlin.

Der zweite Fall ist der des Hans Kohlhase, eines Cöllner Bürgers und Kaufmanns. Kohlhase führt in den 1530er-Jahren eine Fehde gegen das Kurfürstentum Sachsen, weil ihm ein Grundherr zwei Pferde unrechtmäßig abgenommen haben soll. Kohlhase wird im März 1540 zum Tode verurteilt und auf dem Rabenstein (am heutigen Strausberger Platz) hingerichtet. Heinrich von Kleist nimmt ihn zum Vorbild für seine Novelle „Michael Kohlhaas“ von 1810.

Das Publikum: schwere Jungens, Gestalten, denen man nachts nicht gern in einer einsamen Gegend begegnen möchte.

Leo Heller, Reporter

Zurück ins Scheunenviertel. Ein Blick in die Münzstraße, vor rund hundert Jahren „Münze“ genannt. Hier gab es Gebrauchtwarenläden aller Art, Wirtshäuser und Kinos, die schon um 10 Uhr öffneten. Menschenmassen schoben sich über die Bürgersteige. Und dann waren da noch die „Münzis“, schwangere Prostituierte, deren Dienste dreimal so viel kosteten wie im Viertel üblich.

Wir betreten die Weinmeisterstraße. „Der Bürger gänsebehäutet sich, wenn er nur ihren Namen hört“, schrieb Leo Heller in seiner Reportage „Ein Abend im Scheunenviertel“ Anfang der 1920er-Jahre. Regina Stürickow murmelt „Hier muss es sein“ und bleibt vor dem Haus Nummer 7 stehen. Der Albert-Keller habe sich in diesem Altbau befunden. In einer Reportage erwähnt Heller diese Kneipe. Er besuchte sie mit zwei Kripobeamten, hörte Gassenhauer wie „Schaff dir ein Mädchen an, det vill vadienen kann!“

Gegenüber war ein Varieté. Heller schreibt: „Das Publikum: schwere Jungens, Gestalten, denen man nachts nicht gern in einer einsamen Gegend begegnen möchte, die zu ihnen gehörenden Bräute, ein paar behäbige Frauen, einige Hunde (...) Vor mir sitzt einer, zu dem tritt ein anderer und flüstert ihm etwas zu. Der steht auf, und beide verlassen das Kabarett. Die Uhr zeigt gerade elf. Mir schien, als ob da ein Einbruchplan reif geworden wäre.“

Berliner Polizei anno 1848: Wachtmeister, Abteilungs-Wachtmeister, Schutzmann zu Pferde, Lieutenant, Oberst, Hauptmann, Schutzmann zu Fuß (von links). Ein Kriminalkommissar jener Zeit beklagt die überbordende Kriminalität.
Berliner Polizei anno 1848: Wachtmeister, Abteilungs-Wachtmeister, Schutzmann zu Pferde, Lieutenant, Oberst, Hauptmann, Schutzmann zu Fuß (von links). Ein Kriminalkommissar jener Zeit beklagt die überbordende Kriminalität.Polizeihistorische Sammlung Berlin

Es ist ein sehr altes Problem, dass Mitbürger zwischen Mein und Dein nicht unterscheiden. Im Vormärz, zwischen den Revolutionen im Juli 1830 und im März 1848, verzeichnete die Berliner Polizei eine zunehmende Zahl von Diebstählen. Kriminalkommissar Carl Wilhelm Zimmermann schrieb 1847 in seinem Buch „Die Diebe in Berlin“, die überbordende Kriminalität könne nur wirksam bekämpft werden, wenn sich der Staat „der sozialen Frage“ annehme. Aber das Königshaus ließ auch nach der 48er-Revolution diese Frage unbeantwortet.

Die Monarchie war im 19. Jahrhundert mehrmals Ziel von Attentätern. Im Juli 1844 schoss Heinrich Ludwig Tschech, ehemals Bürgermeister von Storkow (Mark), am Portal des Berliner Schlosses auf Friedrich Wilhelm IV. und dessen Gemahlin. Eine Kugel der doppelläufigen Pistole ging ins Leere, was ein Bänkellied so kommentierte, sehr zum Ärger des Königs: „Hatte je ein Mensch so’n Pech/ wie der Bürgermeister Tschech/ dass er diesen dicken Mann/ auf zwei Schritt nicht treffen kann!“ Die zweite Kugel traf „die Landesmutter/ durch den Rock ins Unterfutter“, ohne sie zu verletzen. Tschech wurde in der Zitadelle Spandau hingerichtet.

Wilhelm I. überlebte drei Attentate, im Juli 1861 in Baden-Baden, im Mai 1878 und Juni 1878 in Berlin. Der erste Attentäter wurde begnadigt, der zweite starb unter dem Beil, der dritte an den Folgen eines Suizidversuchs.

Im Zuge der Industrialisierung strömten Arbeitssuchende in Großstädte wie Berlin. Die menschenunwürdigen Lebensumstände in den rasant wachsenden Arbeitervierteln, Arbeitslosigkeit, Prostitution und Alkoholismus leisteten der Kriminalität Vorschub, sodass sich Reformen im Polizeiwesen aufzwangen. Im August 1902 nahm im Polizeipräsidium am Alexanderplatz ein „Mordbereitschaftsdienst“ seine Arbeit auf.

Wir gehen über die Weinmeister- in die Gormannstraße und kommen an der Steinstraße vorbei. Im Frühjahr 1908 starb hier der 15-jährige Lehrling eines Knopflochschneiders. „Ein Lustmord“, sagt Regina Stürickow. „Der Täter entnahm dem Jungen die Organe und zerstückelte ihn.“

In der „Mulackritze“ verkehrte auch die Prominenz

Und dann stehen wir in der Mulackstraße. Wir suchen die Nummer 15, einst Adresse einer Kneipe. Der Berliner Mund nannte das Lokal mit „Hurenstube“ wegen seiner schmalen Form „Mulackritze“. Wir suchen vergeblich: Sowohl die 15 als auch die 14 haben einem Neubau Platz gemacht, in dem eine Boutique ausgefallene Outfits verkauft.

Die Mulackritze war ein beliebter Treff von Arbeitern und Händlern, kleinen Angestellten und Beamten, Schwulen, Lesben und Transvestiten, Bordsteinschwalben und Stricherjungs, leichten und schweren Ganoven. Zeitweise diente die Kneipe als Stammlokal von Adolf Leib, genannt Muskel-Adolf, der mit seinem Ringverein Immertreu das Geschäft der organisierten Kriminalität betrieb.

Hier gab sich auch Prominenz die Klinke in die Hand: „Pinselheinrich“ Zille; Fritzi Massary, die Königin der Operette; Claire Waldoff, die Regentin der Kleinkunst; Schauspielerinnen wie Henny Porten und Marlene Dietrich, ihre Kollegen Heinrich George und Gustav Gründgens. Selbst Polizeipräsident Karl Zörgiebel hob hier ab und an sein Glas.

So manches Verbrechen geschah in der Mulackstraße. Im Haus Nummer 10 – wo es stand, ist ein Spielplatz angelegt – lag der „Buletten-Keller“, im März 1923 Tatort eines Verbrechens: „Ein Mann wurde erschossen“, sagt Regina Stürickow. „Gäste verprügelten den Schützen daraufhin derart, dass er starb.“

In der 13 wurde in einer Novembernacht 1938 eine Frau erstochen. Ihr Mörder konnte trotz einer Belohnung von 1000 Reichsmark nie gefasst werden. Im Souterrain des Altbaus befindet sich eine Szenebar.

Die Mulackstraße 13 war zeitweise die Adresse von Albrecht „Ali“ Höhler. Im Februar 1930 schoss der KPD-Mann den SA-Mann Horst Wessel in dessen Wohnung in Friedrichshain nieder.

 Kundgebung außer Kontrolle: Nach dem Verbot der Demonstrationen zum 1. Mai kommt es 1929 zu Unruhen. 33 Menschen fallen dem „Blutmai“ zum Opfer, auch Unbeteiligte.
Kundgebung außer Kontrolle: Nach dem Verbot der Demonstrationen zum 1. Mai kommt es 1929 zu Unruhen. 33 Menschen fallen dem „Blutmai“ zum Opfer, auch Unbeteiligte.dpa picture alliance/akg images

Überhaupt waren politisch motivierte Verbrechen in der Weimarer Republik fast schon an der Tagesordnung. Da sind die Morde an den KPD-Mitbegründern Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg 1919 sowie an Außenminister Walther Rathenau 1922; und da ist auch der Doppelmord an zwei Polizisten 1931, verübt am Kino Babylon von den Kommunisten Erich Ziemer und Erich Mielke, viel später Minister für Staatssicherheit der DDR.

Eine besondere Rolle spielten in diesem Zusammenhang die als „Blutmai“ bezeichneten Unruhen vom 1. bis zum 3. Mai 1929: 33 Menschen starben, als die Polizei gegen ungenehmigte, von der KPD organisierte Kundgebungen vorging. Verantwortlich dafür war der bereits erwähnte Polizeipräsident Zörgiebel, ein SPD-Politiker. Dieser Mai vertiefte die Spaltung der Arbeiterparteien, wovon die Nationalsozialisten profitierten.

Im nationalsozialistischen Berlin beging auch der Staat selbst Verbrechen. Schwere Straftaten von Bürgern versuchte er zu verbergen, da sie nicht in das völkische Ideal der konfliktfreien Volksgemeinschaft passten. In der Nachkriegszeit herrschte Beschaffungskriminalität vor.

Die geteilte Stadt machte ab 1961 mit ihrer Mauer als Tatort von sich reden: An ihr starben mindestens 140 Menschen, allen voran DDR-Flüchtlinge, aber auch acht DDR-Grenzsoldaten.

Der Westteil sah Ende jener 60er-Jahre die Geburt der Studentenbewegung um Rudi Dutschke; ein Rechtsextremist schoss ihn 1968 mit den Worten „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ nieder. Nach dem tödlichen Schuss eines Polizisten auf den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demo 1967 radikalisierte sich ein Teil der Bewegung. Terroristische Vereinigungen wie die „Bewegung 2. Juni“ – im Jahr 1975 hielt sie den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz fünf Tage lang gefangen – und die „Rote Armee Fraktion“ gründeten sich.

Die Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag ist hoch

Terror suchte die Stadt auch später heim. Bei einem Bombenanschlag im April 1986 auf die Diskothek La Belle an der Hauptstraße 78 in Friedenau kamen drei Menschen um. Zwei der Opfer waren amerikanische Soldaten. Verantwortlich dafür soll der libysche Geheimdienst gewesen sein. Und: Ein Islamist steuerte im Dezember 2016 einen Sattelzug in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz. Den Lkw hatte er gestohlen, den Fahrer erschossen. Der Anschlag selbst forderte elf Tote.

Natürlich waren und sind solche Gewalttaten in Berlin die Ausnahme. In der Kriminalgeschichte beider Teile der Stadt waren zirka zwei Drittel aller registrierten Straftaten Eigentumsdelikte. Für 1982 sind im Osten etwa 30 Tötungsfälle erfasst, im Westen rund viermal so viele. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es nach dem Selbstverständnis der DDR in einer „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ Kapitalverbrechen nicht geben durfte, was sich auf die offizielle Statistik auswirkte.

Die meisten heute erfassten Fälle in Berlin betreffen Diebstahl, Vermögens- und Fälschungsdelikte, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Kapitalverbrechen, Sexual- oder Rauschgiftdelikte machen nur einen prozentual kleinen Anteil der Kriminalität aus, wenngleich die Fallzahlen letztgenannter seit 2016 stadtweit stetig steigen. Es gab seitdem jedes Jahr zwischen 91 und 106 Fälle von Mord und Totschlag sowie Tötung auf Verlangen, die Aufklärungsquote liegt hier bei durchschnittlich 92 Prozent.

Trauer um ein Mordopfer: Burak Bektas (22) wird am 5. April 2012 auf offener Straße in Neukölln erschossen. Sein Mörder ist unbekannt, die Hintergründe der Tat sind ungeklärt.
Trauer um ein Mordopfer: Burak Bektas (22) wird am 5. April 2012 auf offener Straße in Neukölln erschossen. Sein Mörder ist unbekannt, die Hintergründe der Tat sind ungeklärt.imago/Olaf Wagner

Einige Fälle aber bleiben vermutlich ungeklärt. Vier Beispiele.

– Ein unbekannter Mann ersticht im Februar 1968 in einem Kinderheim in Zehlendorf einen fünfjährigen Jungen namens Peter und eine Erzieherin.

– Jürgen Lawrenz, Hauptwachtmeister der Volkspolizei, wird im September 1982 im Hinterhof der Trelleborger Straße 6 in Pankow mit mehreren Messerstichen umgebracht, seine Dienstpistole wird gestohlen.

– Eine Briefbombe tötet im Juni 1991 Hanno Klein, Referatsleiter in der Senatsbauverwaltung.

– Burak Bektas unterhält sich an einem Abend im April 2012 vor dem Vivantes-Klinikum Neukölln mit vier Bekannten, als ein vorbeikommender Mann plötzlich eine Pistole zieht und auf die Gruppe schießt. Der 22-jährige Bektas stirbt, zwei seiner Bekannten werden schwer verletzt.

Zurück in die Mulackstraße. Es sind nur ein paar Meter bis zur Linienstraße. Im Haus mit der Nummer 63 – heute eine als Parkplatz genutzte Baulücke – habe sich im August 1918 eine Bluttat ereignet, weiß Regina Stürickow zu berichten: „Ein Soldat auf Fronturlaub erstach, ziemlich brutal, die Wirtin einer Kneipe.“

Der Stoff für Bücher wird der Expertin für historische Verbrechen nicht so schnell ausgehen. Sie lebt und schreibt nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris. Und wo fühlt sie sich sicherer? Ihre Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „In Berlin!“


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