Das Buch „Lost in Work“ der britischen Wissenschaftlerin und Journalistin Amelia Horgan geht einer so alten wie aktuellen Frage nach: Warum macht Arbeit so viele Menschen unglücklich? Horgan analysiert die wirtschaftlichen Kräfte, die unser kollektives Unbehagen verstärken. Sie beginnt ihre Recherche, indem sie die ideologischen Fantasien von Arbeit im Kapitalismus identifiziert – etwa dass es einfach sei, eine gut bezahlte, sichere und erfüllende Arbeit zu finden. Sie legt auch die harte Realität schlecht bezahlter und prekärer Arbeit frei. Letztlich plädiert sie für neue Formen der Solidarität gegen die Ausbeutung prekär Beschäftigter.

Berliner Zeitung: Warum haben Sie Ihr Buch „Lost in Work“ genannt?
Amelia Horgan: Das Buch geht den Bedingungen nach, unter denen wir heute arbeiten, und untersucht, wie sie verbessert werden könnten. Ich interessiere mich für die Art und Weise, wie Arbeit Einzelnen, der Gesellschaft und auch dem Planeten als Ganzen schadet. Auch, was durch Arbeit oder als Folge von Arbeit verloren geht. Für die Einzelnen bedeutet Arbeit, und nicht nur die traditionelle „manuelle“ Arbeit, Stress und Unwohlsein. Die Verschlechterung von Löhnen und Arbeitsbedingungen und die strukturellen Veränderungen der Arbeitsstrukturen schaden der Gesellschaft als Ganzes, indem sie Solidarität schwächen und uns stärker isolieren. Der Titel bezieht sich auch auf die Weise, wie sich heutige Arbeit oft anfühlen kann: Wir stecken einen Großteil unserer Zeit und emotionalen Energien in die Arbeit, sodass wir uns in ihr verlieren.
Zu Beginn des Buches schreiben Sie, dass Sie hoffen, das, was als natürlich, feststehend und unüberwindbar gilt, als veränder- und überwindbar offenzulegen. Aus welcher theoretischen Tradition kommen Sie?
Meine Ausbildung erfolgte vor allem in feministischer Theorie sowie im Marxismus und kritischer Theorie. Ich arbeite derzeit an meiner Doktorarbeit, in der ich mich damit beschäftige, wie Arbeit in der politischen Philosophie behandelt wurde. Ich frage, was in den traditionellen Ansätzen fehlt. Die Idee für das Buch war also, die Art und Weise zu untersuchen, wie im liberalen Mainstream-Diskurs über Arbeit gesprochen wird. Zu fragen, ob das dem entspricht, was Arbeit wirklich ist. Und wenn nicht, warum?
In Großbritannien wurde in den letzten zehn Jahren viel über sogenannte „Null-Stunden“-Arbeitsverträge diskutiert. Dabei handelt es sich um Arbeitsverhältnisse, bei denen Arbeitgeber weder die Anzahl der Arbeitsstunden noch die Tageszeit oder den Wochentag festlegen, an dem Arbeitnehmer zur Arbeit gerufen werden. Die Befürworter dieser Art Arbeit preisen ihre „Flexibilität“. Sind dies die Merkmale der modernen Arbeit, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
Ja, ich interessiere mich besonders für die Veränderungen bei Arbeitsverträgen und die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Aber auch für abstraktere Themen, etwa die emotionalen Anforderungen der Arbeit. Da Arbeit immer mehr Raum in unserem Leben einnimmt, verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit. Das gilt besonders für diejenigen, die während der Pandemie von zu Hause arbeiten. Aber es geht auch darum, wie die Menschen ihre Freizeit gestalten. Wenn das gesamte Leben zum möglichen Ort der Selbstentfaltung im Rahmen dieser Art von „Humankapital“ wird, verschwimmt die Grenze zwischen Freizeit und Arbeit nicht nur – sie bricht buchstäblich zusammen. In meinem Buch versuche ich, diesen Prozess wieder am Arbeitsplatz anzusiedeln, indem ich sage: Seht her, das kommt von einer bestimmten Reihe Anforderungen, die in diesem konkreten Umfeld gestellt werden.
Ihre Kritik hat zwei Seiten: Die eine ist ein spezifischer Kommentar zu den heutigen Arbeitsbedingungen, die sich eindeutig verschlechtert haben. Die andere ist eine allgemeine Kritik an Arbeit im Kapitalismus.
Ja, es gibt in dem Buch zwei Zeitrahmen. Der eine ist Arbeit im Kapitalismus. Der andere ist Arbeit im Rahmen struktureller Veränderungen im Neoliberalismus. Lassen wir nicht-entlohnte Arbeit wie Hausarbeit mal außen vor: Wir wissen, dass es im Kapitalismus eine grundlegende Teilung des Eigentums gibt. Bestimmte Leute besitzen Produktionsmittel und andere nicht. Die Leute, die sie nicht besitzen, haben keine Kontrolle über das, was sie tun. Diese grundlegende Trennung bedeutet auch, dass die Menschen keine Kontrolle über ihre Arbeit haben. Sie sind dieser Form von Unfreiheit ausgesetzt. Natürlich wird nicht jeder durch eine Art Fließband kontrolliert. Dennoch setzt diese grundsätzliche Unfreiheit eine Grenze für die Qualität der Arbeit. Doch es gibt noch eine andere Art von Unfreiheit. Nämlich, dass Menschen, sofern sie nicht sehr, sehr reich sind, arbeiten müssen, um ihr Überleben zu sichern. Diese Beeinträchtigungen der Freiheit und Würde, die für den Markt und die Arbeit grundlegend sind, kommen in der liberalen Standarddarstellung der Freiheit individueller Rechte gar nicht vor. Ich halte das für ein ziemlich grundlegendes Problem.
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— Amelia Horgan (@AmeliaHorgan) March 15, 2022
Das britische, in Dubai ansässige Unternehmen P&O entließ kürzlich rund 800 Mitarbeiter und plant nun, sie durch Arbeitnehmer mit niedrigeren Löhnen zu ersetzen. Dem Unternehmen könnte eine Geldstrafe drohen, weil es versäumt hat, vorab die Gewerkschaften zu konsultieren. Dennoch ist die „fire and rehire“-Praxis in Großbritannien legal. Was sagt uns das über die Themen Ihres Buchs?
Ich denke, dass wir in der P&O-Situation sozusagen die Spitze des Eisbergs der von mir beschriebenen Machtverhältnisse erkennen können, inklusive Bilder privater Sicherheitsdienste, die Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen weg eskortieren. Ich glaube nicht, dass das etwas so Ungewöhnliches ist. Es entspricht der rechtlichen Infrastruktur in Großbritannien, das die wohl regressivsten Gewerkschaftsgesetze in Westeuropa hat. Und es entspricht einem Wirtschaftsmodell, das in erster Linie auf die Interessen der Arbeitgeber ausgerichtet ist. Nach Angaben des Trade Union Congress wurden etwa neun Prozent der britischen Arbeitnehmer während der Pandemie entlassen und später wieder eingestellt.
Sind die Gewerkschaften und die Parteien der linken Mitte in der Lage, die Probleme der heutigen Arbeitswelt anzugehen?
Ich denke, wir müssen die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung ernst nehmen. Aber ich sehe auch kleine Hoffnungsschimmer. Die Politisierung von Arbeitsbeziehungen während der Pandemie war beispielsweise sehr wichtig. Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen müssen jetzt darauf aufbauen und Druck auf linke oder potenziell linke Parteien ausüben. Im Abschnitt meines Buchs über Gewerkschaften gehe ich bis in die 1830er-Jahre in Frankreich zurück: Ich will zeigen, dass es immer überwältigend große Barrieren gab. Aber es gab auch immer die Tapferkeit und den Mut und den Wunsch, für Freiheit zu kämpfen.
In den letzten Jahren gab es in der Linken wiederkehrende Debatten über die relative Bedeutung materieller Belange im Vergleich zu anderen Arten von Diskriminierungsformen. Manchmal wurde soziale Klasse gegen Geschlecht, race oder etwa Migrationsstatus ausgespielt. Kann der Blick auf das Thema Arbeit uns helfen, diese antagonistischen Diskussionen zu überwinden?
Die Standardformulierung von Klasse, Geschlecht oder race geht davon aus, dass es sich um Identitäten handelt, die Menschen innewohnen. Die Frage für die Politik lautet: Konzentriert man sich auf das eine oder auf das andere? Meiner Ansicht nach ist die Sache aber komplizierter. Es handelt sich weniger um Identitäten als vielmehr um Beziehungen oder Prozesse. Der Arbeitsplatz ist da ein wichtiger Knotenpunkt, eine Art Treffpunkt, an dem diese Beziehungen hergestellt und aufrechterhalten werden. Wenn Arbeitende sich organisieren, um ihre Macht am Arbeitsplatz zu stärken, kann ihnen das helfen. Sei es bei der Durchsetzung höherer Löhne oder beim Widerstand gegen sexuelle Belästigung durch den Chef. Und wenn man sie dabei unterstützt, ihre Macht zu stärken, steigen auch ihre Erwartungen in anderen Lebensbereichen, nicht nur bei Brot-und-Butter-Themen wie dem Gehalt. Wenn wir uns auf die Arbeit als Ort konzentrieren, um den herum wir uns organisieren können, dann sehen wir, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Dass diese verschiedenen Facetten der Identität letztlich gar nicht so gegensätzlich sind.
Wie sieht es in Deutschland im Vergleich zu Großbritannien aus?
So wie die USA ein abschreckendes Beispiel für Großbritannien sein können, kann Großbritannien ein abschreckendes Beispiel für andere Teile Westeuropas sein. Die Veränderungen, die wir in unserer Wirtschaft und unserem Wohlfahrtsstaat sehen, könnten ähnliche Veränderungen in anderen Ländern vorwegnehmen.
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— Harry Stopes (@HarryStopes) December 10, 2021
Was erhoffen Sie sich von den Diskussionen mit deutschen Lesern?
Ich plane demnächst eine Veranstaltung mit einem Studierendenverein in Berlin. Mein deutscher Verlag hofft, im Sommer Veranstaltungen in Berlin und Hamburg organisieren zu können. Ich bin gespannt auf die Stimmen vor Ort. Zum einen soll es um Arbeitsbedingungen in Deutschland gehen. Zum anderen aber auch um die Klimabewegung, also besonders um die Militanz und die Erfolge der Bewegung im Vergleich zur britischen Klimapolitik. Die andere Sache, über die ich sprechen möchte, sind junge Menschen in der Politik. Wir gehen davon aus, dass junge Menschen nach links gehen. In Großbritannien trifft das zu, aber das Wahlverhalten bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland scheint das in Frage zu stellen. Gibt es in Deutschland eine andere Art Generationen-Struktur der Gefühle? Es wird wichtig sein, darüber nachzudenken, was die Linke in Großbritannien daraus lernen könnte.
Amelia Horgan: „Lost in Work: Dem Kapitalismus entkommen“, im Verlag Kurven, Edition Konturen, Wien, Hamburg. 176 Seiten, 22 Euro.
